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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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Schultafel.
    Schaudernd wickelte die junge Frau ihren Umhang enger um sich, nachdem sie vor dem Tor von feuchtkalten Windstößen empfangen worden waren. Die Böen drohten, ihr den Hut und ihrem Vater den Zylinder vom Kopf zu reißen, und wühlten förmlich im Kragen seines Kutschermantels. Fräulein Bertram hatte Mühe, alle die Hutschachteln und Kulturbeutel festzuhalten, die der Sturm ihr aus den Fingern zu winden versuchte.
    Anna Lisa kletterte hinter ihrem Vater in die Kutsche, die Peitsche des Kutschers knallte, und das Gespann rasselte durch die grauen Regenschleier von der Residenz des Reeders in Richtung Hafen. Die übrigen Kutschen folgten. Man war früh aufgebrochen, denn im Hafen war ein gewaltiges Gedränge zu erwarten. Die Anne-Kathrin war seit Wochen von der Luxusklasse bis zur letzten Koje im Zwischendeck ausgebucht. Die billigsten Plätze waren am gefragtesten. Seit rund hundert Jahren trieben Hunger und Elend Auswanderer in Scharen aus dem norddeutschen Land, sei es nach Amerika, Australien, Indochina oder eben Niederländisch-Ostindien. Sooft einer der Auswandererdampfer in See stach, organisierten die großen Reiseagenturen wie der Norddeutsche Lloyd die Reise, die dann in den Zeitungen annonciert wurde. Bis ins letzte Dorf ging die Nachricht, dass zu einem bestimmten Datum ein Hochseedampfer im Hafen lag. Dann musste man sich eilen, eine Karte zu ergattern, oder sich auf die Warteliste setzen lassen, denn die Nachfrage war groß. Die Reisen wurden mit allem Drum und Dran pauschal gebucht, die Passagiere mussten nicht mehr fürchten, Betrügern in die Hände zu fallen, sie mussten auch nicht mehr wie früher wochenlang im Hafen warten – wo manch einer seinen letzten Pfennig ausgegeben hatte –, sondern die Fahrzeiten von Zug und Schiff wurden aufeinander abgestimmt, alles war bis aufs Kleinste geregelt.
    Die junge Frau, die noch nie eine große Reise gemacht hatte, fühlte sich jetzt schon hilflos, obwohl eigentlich gar nichts schiefgehen konnte. Was hatte sie denn zu befürchten? Sie reiste mit ihrem Ehemann und ihrer Dienerschaft in einer bequemen Kabine der ersten Klasse. Anders sah es freilich für die vielen billig Reisenden aus: Die armen Leute reisten im Zwischendeck als lebendes Frachtgut, das man in der Frühzeit der Auswandererschiffe kurzerhand in die Freiräume zwischen der Ladung gestopft hatte. Später, als immer mehr ihr Heil in der Fremde suchten, wurden sie in riesigen Schlafsälen zusammengedrängt, gepeinigt von Enge, Infektionskrankheiten, üblen Gerüchen und mörderischer Hitze, sobald sie die tropischen Gebiete erreicht hatten. Erst in jüngster Zeit hatten die Schifffahrtsgesellschaften erkannt, dass sie ein besseres Geschäft machten, wenn sie den Auswanderern einigermaßen menschenwürdige Unterkünfte zur Verfügung stellten. Aus dem menschlichen Kargo wurden die Passagiere der dritten Klasse.
    Die Reichen dagegen hatten es fast so bequem wie zu Hause. Ihre Kabinen waren elegant eingerichtete Suiten mit Salon, Schlafzimmer, Boudoir und Dienerzimmern. Elmer Lobrecht hatte dafür gesorgt, dass das junge Ehepaar eine schöne Außenkabine mit allem Komfort bekam; allerdings war er Geschäftsmann genug, dass er ihnen wohl eine Kabine der ersten Klasse, aber keine der Luxusklasse zugestand. Er selber und seine Söhne wären auch nicht anders gereist. Insgeheim hegte er eine gewisse Verachtung für die Passagiere, denen die goldenen Nester auf dem Sonnendeck zugedacht waren: Dort logierten ausländische Fürsten, Opernsängerinnen, die Witwen und Mätressen amerikanischer Finanzleute und ähnliche Leute, die in Lobrechts Augen unnützes Volk waren.
    Sobald Vater und Tochter miteinander allein waren, zog Elmer Lobrecht ein schmales Kuvert aus seinem Rock und drückte es der Tochter in die Hand. »Du reist in ein fernes Land, Anna Lisa, wo du außer deinem Gatten keinen Beschützer hast. Ich hoffe, ich habe mein Bestes getan, dass es dir dort gut geht, aber falls du dennoch in Schwierigkeiten geraten solltest, so wende dich an die deutsche Bank in Batavia, und zwar ausdrücklich an den Herrn, dessen Namen in diesem Brief erwähnt wird. Ich habe dort eine Summe Geldes auf deinen Namen deponiert, die dir in ernsten Notfällen – sagen wir, falls dein Gatte plötzlich sterben sollte oder ein ähnliches Unglück eintrifft – zur Verfügung steht. Wohlgemerkt, in sehr ernsten Notfällen und nur, wenn du auf dich allein gestellt sein solltest. Unter allen anderen Umständen

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