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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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und Frauen stritten wütend. Matrosen brüllten und Offiziere bliesen in ihre Trillerpfeifen.
    Auch hinter der Absperrung, wo sich, von Polizisten und Ordnern abgeschirmt, die Passagiere der ersten Klasse versammelten, herrschte lärmende Geschäftigkeit. Droschken bahnten sich geschickt ihren Weg durch die Menge und entließen ihre Fahrgäste, während schwere, hoch beladene Rollwagen über das Kopfsteinpflaster auf die Laderampe zurumpelten, wo ihre Waren an Bord des Schiffes gehievt wurden. Koffer und Seekisten wurden von schwitzenden Trägern das Fallreep hinaufgeschleppt. Sah man die Kleidung der Reisenden erster Klasse, so konnte man eher meinen, sich in einem Opernfoyer zu befinden: Allerorten leuchteten bunter Samt und pelzbesetzter Satin, und über allem tanzten die Hüte mit ihrem oft extravaganten, ja närrischen Putz aus künstlichen Früchten, Seidenblumen und Chiffonschleifen. Das Stimmengewirr der erregten Menge aus Schaulustigen, Passagieren und deren Begleitern übertönte den Lärm der Schiffsmaschinen und der kreischenden Möwen am Himmel.
    Dann brüllten die Megafone die Aufforderung, die Passagiere der ersten Klasse möchten an Bord gehen. »Bitte begeben Sie sich in den Empfangsraum der ersten Klasse, die Stewards werden Ihnen Ihre Kabinen zuweisen! Alle Passagiere der ersten Klasse an Bord, ich wiederhole …«
    Anna Lisa fand kaum noch Zeit, ihre drei Brüder, die aus der nachfolgenden Kutsche gesprungen waren, und ihren Vater zum Abschied zu küssen. Es gab ein wildes Gedränge in der Einschiffungshalle, als sich die Träger mit der Krankenbahre hindurchzwängten. Endlich gelangten sie ins Innere des Gebäudes. Von hier aus führte das Fallreep zum Schiffseingang der ersten Klasse. Eben wurde das Gittertor zum Schiffsinneren geöffnet.
    Die letzten Meter des Fallreeps waren nicht mehr überdacht, und Anna Lisa bekam einen eisigen Regenguss ab, der ihre Schultern durchnässte. Am Eingang wurden die Passagiere von einem Mitglied der Mannschaft gebeten, ihre Tickets vorzuzeigen. Der Uniformierte hielt eine Liste in der Hand, auf der er jeden einzelnen Namen abhakte. Mit einem zuvorkommenden Gruß wurde das Ehepaar Vanderheyden in den Empfangsraum der ersten Klasse dirigiert. Wie ging es dort zu! Menschen drängten in alle Richtungen, schrien nach ihrem Gepäck, suchten zunächst einmal vergeblich ihre Kabinen, klammerten sich an die Stewards und protestierten dagegen, dass man sie dumm herumstehen ließe, obwohl die Angestellten ihr Bestes taten.
    Da! Das dritte Signal! Drei Pfiffe gellten über das Vorderschiff. Das Fallreep wurde eingezogen. Von den unteren Decks und von der Pier erklangen heisere Rufe, als die dicken Stahltrossen gelöst wurden, mit denen die Anne-Kathrin an Land verankert war. Lautes Dröhnen und Bullern erschallte aus den Bäuchen der Schlepper.
    Zwischen Schiffsrumpf und Pier öffnete sich ein breiter, endgültiger Spalt. Die Anne-Kathrin erschauerte, als die Schrauben der Schlepper ansprangen und der bis dahin reglos ruhende Riese erstmals in Bewegung geriet. Langsam trieb das Schiff, von oben bis unten festlich illuminiert und in leuchtenden Nebel gehüllt, von der dunklen Pier ab. Die Kessel in seinem Inneren wurden angeheizt. Aus der Öffnung eines Schornsteins zischte eine weiße Dampfwolke, dann folgten schwarze Rauchpilze, als die riesigen Maschinen warmliefen. An Bord herrschte ein Wirbel wie bei einem Volksfest. Matrosen und Offiziere, Gepäckträger, Passagiere und Stewards wimmelten auf den Decks durcheinander. Zwischen den Weißen waren zahlreiche dunkelhäutige Menschen zu sehen, nicht nur Mitglieder der Schiffsbesatzung, sondern auch Passagiere, denn das Schiff würde in Djibouti an der afrikanischen Küste, in Colombo auf Ceylon, im indischen Hafen Bombay und in Padang auf Sumatra anlegen. Überall dort lebten Menschen malaiischer, arabischer, indischer, afrikanischer und chinesischer Abstammung.
    Das alles nahm Anna Lisa freilich nur sehr undeutlich wahr. Sie kam nicht einmal dazu, an die Reling zu laufen und ihren Verwandten ein letztes Mal zu winken, so beschäftigt war sie mit ihrem kranken Gatten. Da die Lobrecht’schen Diener von Bord gehen mussten, übernahmen zwei Stewards die Aufgabe, die Bahre in die Kabine zu tragen. Das allein wäre noch kein Problem gewesen, denn Simeon war keine schwere Last. Aber plötzlich gab es eine heftige Debatte um Tietjens, die mit großer Selbstverständlichkeit ihrem Herrn folgte und sich in der Kabine erst einmal

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