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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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hatten und sich dem abseits liegenden Stall näherten.
    Im nächsten Augenblick wurde er vom Rücken des scheuenden Pferdes geschleudert. Ohne jeden erkennbaren Grund stieg die sonst so gemächliche Hepzibah auf die Hinterbeine und wieherte gellend – nein, es war mehr ein halb menschlich klingendes Schreien als ein Wiehern! Die Hufe der Stute wirbelten durch die Luft, landeten mit einem nervenzerrüttenden Krach auf dem Weg, links und rechts neben dem zu Tode erschrockenen Reiter, den sie um ein Haar zerschmettert hätten. Dann raste die Stute davon, blieb aber in einiger Entfernung wieder stehen und stampfte schnaubend, den Kopf hin und her werfend, im Kreis.
    Der Reiter lag reglos auf dem Rücken, erstarrt vor Entsetzen bei dem Gedanken, er könne versuchen, seine Glieder zu bewegen und nicht dazu imstande sein. Wenn er sich nun das Genick gebrochen hatte? Wenn er nie wieder fähig sein würde, mehr als die Augen zu bewegen? Vom Haus her hörte er die Rufe einer Männerstimme, sah ein flackerndes Licht näher kommen. Da rührte er sich, erst zaghaft, dann rappelte er sich hoch, machte ein paar ungelenke Schritte und kam auf der vom Tau feuchten Böschung ins Rutschen, kollerte auf den Weg und zog unwillkürlich Arme und Beine an. Gott sei es gedankt – er konnte sich bewegen, hatte sich nicht das Rückgrat verletzt.
    »Mir ist nichts passiert!«, rief er dem Stallknecht zu. »Fang das Pferd ein, aber vorsichtig, sie ist vollkommen aus dem Häuschen!«
    Das war Hepzibah tatsächlich. Sie, die sonst kaum etwas aus dem Gleichgewicht brachte, schnaubte heftig, hin- und hergerissen zwischen Wut und Furcht und dem Bedürfnis, sich in die Hände der Menschen zu geben, die sich bislang immer um sie gekümmert hatten. Nur allmählich gelang es dem Stallburschen, durch gutes Zureden das Tier zu beschwichtigen und in den Stall zurückzuführen. Andere Diener hatte der Lärm geweckt. Sie halfen dem Hausherrn auf die Beine und brachten ihn, der bei jedem Schritt vor Schmerzen ächzte, zurück ins Haus.
    Der Hauswart, der sich zugleich auf die nötigste Heilkunde verstand, untersuchte seinen Herrn. Er konnte ihn beruhigen. Nichts war gebrochen, nichts verrenkt oder verstaucht, nur etliche blaue Flecken begannen sich bereits zu bilden, die sich in den nächsten Tagen zweifellos zu vielfarbig schillernden Blutergüssen auswachsen würden.
    Der Verletzte war froh, als der Trubel der besorgten Dienerschaft abflaute und man ihn, versorgt mit Eisbeuteln, Brandy und Opiumtropfen, in seinem Nachtquartier allein ließ. Er lag still im Bett und lauschte den Geräuschen des Hauses. Der heftige Schmerz war unter dem Einfluss von Alkohol und Opiat zu einem dumpfen Rumoren verebbt, sodass er sich einigermaßen wohlfühlte. Vom eigenen Leiden weitgehend befreit, begann er über das Befinden seines Pferdes nachzudenken. Er hatte weit und breit keine äußere Ursache entdecken können, die die arme Hepzibah so erschreckt haben konnte, also musste ein jäher Schmerz das Tier irritiert haben, und zwar ein sehr heftiger Schmerz wie etwa ein unvermuteter rheumatischer Anfall. Er musste schnellstens den Tierarzt in dieser Frage konsultieren, denn abgesehen von der Sorge um das Wohlbefinden seiner Stute wollte er nicht riskieren, noch einmal auf diese Weise aus dem Sattel geschleudert zu werden. Noch jetzt klopfte ihm das Herz im Hals, wenn er an das Schicksal dachte, dem er nur knapp entgangen war.
    Er wollte sich eben zum Schlaf einrollen, als das Knarren der Tür ihn aufschreckte. Das Licht einer Laterne erhellte den Raum. Aus halb geschlossenen Augen sah er den Hauswart eintreten, das Gesicht unter dem wirren, grauen Haar grimmig verzogen. Ohne Vorrede sagte er: »Der Pferdeknecht hat mir das hier gezeigt.« Er öffnete die Hand und ließ den Verletzten, der sich irritiert aufsetzte, etwas Glitzerndes sehen. »Er hat es Hepzibah aus der Hinterbacke gezogen.«
    Der Hausherr beugte sich blinzelnd vor. Der Bedienstete trat näher ins Licht, und jetzt war deutlich zu sehen, was auf seiner Handfläche lag: Es war ein fingerlanger, spitz gefeilter Eisenbolzen, noch verschmutzt vom Fleisch und Blut des unglücklichen Pferdes.
    Der kleine braune Mann beobachtete das Gesicht seines Herrn aufmerksam, als er feststellte: »Jemand hat Ihr Pferd mit Absicht dazu gebracht, Sie abzuwerfen.« Seine onyxschwarzen Augen waren hart, seine Züge straff. Ihm war anzumerken, wie tief es ihn erschütterte und wie sehr es ihn erzürnte, dass jemand einen so feigen

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