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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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ist Simeon dafür verantwortlich, für dich zu sorgen.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Das hier ist eine Sache, die nur dich und mich betrifft.«
    Anna Lisa nickte. Sie verstand. Ihr Vater wünschte nicht, dass sie Simeon oder sonst jemand von diesem Brief erzählte. Sie faltete das Papier und steckte es in den Ausschnitt ihres Kleides, in das schmale, verborgene Täschchen, das dafür gedacht war, ein winziges Parfümflakon aufzunehmen. »Ich danke dir«, flüsterte sie.
    Elmer Lobrecht, der in emotionsgeladenen Momenten nie wusste, was er sagen sollte, nickte nur und tätschelte ihre schmale, kalte Hand.
    Es begann, heftiger zu regnen. Der Sturm trieb die eiskalten Wasserschleier über die glänzenden Leiber der Schiffe, in die Gesichter der Reisenden und bis hinein in die hoch geknöpften Krägen ihrer Reisemäntel. Segel und Schornsteine der zahllosen Schiffe verschwammen hinter einer Wand aus Regen, Schmauch und Dampf. Der Kutscher hatte einige Mühe, die Anne-Kathrin zu finden, so dicht lagen die Ozeandampfer nebeneinander. Dann endlich entdeckte er die richtige Pier, peitschte die schnaubenden Pferde den Kai entlang und hielt die Kutsche im Schatten des mehrere Stockwerke hohen Rumpfes an. In der Hafenstadt Hamburg aufgewachsen, hatte Anna Lisa Wasserfahrzeuge zu Hunderten gesehen, aber in den letzten Jahren hatte sich das äußere Erscheinungsbild der Schiffe drastisch gewandelt. Das Segel als Antriebsmittel wurde allmählich durch den Dampfmotor abgelöst. Hölzerne Rümpfe wurden durch stählerne ersetzt, Kupfernägel durch Eisennieten. Vor allem die Ozeanriesen, die Unmengen an Passagieren und Kargo zwischen den Weltteilen hin und her transportierten, glichen eher schwimmenden Städten als den Schiffen früherer Zeit. Überall hörte man nur noch Worte wie »Höchstleistung«, »Fortschritt«, »Rekord«. Alle Welt schien besessen von dem Gedanken, immer neue Wunderwerke aus Stahl und Eisen zu schaffen. Schneller, leistungsfähiger, präziser als die vorhergehenden. Die Zeitungen waren voll mit Berichten und Annoncen über stetig verbesserte Fahrzeuge, Lokomotiven, Fabrikmaschinen und Schiffe.
    Die Anne-Kathrin war bei Weitem nicht das größte Schiff im Hafen, dennoch erschien sie Anna Lisa gigantisch, wie sie da über die Pier aufragte, dass sie den Himmel verdunkelte, ein Koloss aus schwarzem Stahl, dessen Flanken in regelmäßigen Abständen von runden Bullaugen durchlöchert wurden. Der weiß gestrichene Deckaufbau lag inmitten einer für Landratten undurchschaubaren Wirrnis von Takelage zwischen den Masten, an denen die noch eingerollten Segel hingen, und den Kränen für die Rettungsboote. Zwei mächtige, schwarz-weiß geringelte Schornsteine überragten ihn. Noch waren die zahlreichen Segel nicht aufgetakelt. Noch drang kein Laut aus dem Kesselraum der Anne-Kathrin, noch ruhten die gewaltigen Schiffsmaschinen. Sie würden erst anspringen, wenn die zwei bulligen Schlepper, die jetzt am Rumpf des Ozeanriesen festmachten, diesen von der Pier weggezogen hatten.
    Elmer Lobrecht – dem es den Magen verkrampfte bei der Vorstellung eines sentimentalen Abschieds – beeilte sich, seine Tochter mit technischen Informationen auf andere Gedanken zu bringen. Die Anne-Kathrin, so erklärte er ihr, würde mit der Kraft ihrer Dampfmaschinen die Elbemündung verlassen und erst auf hoher See Segel setzen, denn Wind war immer noch das billigste Antriebsmittel. Nur bei längeren Flauten würde die Mannschaft auf die Kohle fressenden Dampfmaschinen zurückgreifen. Sparsamkeit war angesagt, denn sie hatte eine lange Reise vor sich: Nachdem sie Batavia erreicht hatte, würde sie ihre Fahrt fortsetzen nach Neuguinea, Celebes und Borneo, würde das unter britischer Oberhoheit stehende Singapur anlaufen, die Straße von Malakka durchfahren und dann wieder Kurs auf Europa nehmen. »Ich will gar nicht daran denken, wie viel Geld wir für Kohle ausgeben müssen, wenn uns kein guter Wind bestimmt ist«, murrte der Reeder, während er die Hand seiner Tochter festhielt. Es gab so viel anderes, das er gerne gesagt hätte, aber er hatte es in seinem ganzen Leben nicht fertiggebracht, in emotionalen Augenblicken die richtigen Worte zu finden.
    Und selbst wenn er ausnahmsweise einmal in der Lage gewesen wäre, so hätte Anna Lisa ihn kaum verstanden, so unbeschreiblich war der Lärm, der den Kai erfüllte. Kinder plärrten. Mütter, die in dem Gedränge ihre Kleinen zu verlieren fürchteten, schrien nach ihnen. Männer

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