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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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alten Herrn zwar bei Weitem vorgezogen, aber sie wollte nicht in der Kabine essen. Sie fühlte sich jetzt schon eingesperrt. Ihr graute bei dem Gedanken, welch lange Reise noch vor ihr lag.
    Als sie zum Mittagessen in den Speisesaal kam, erwartete sie Dr. Wilkens Semmelbrod an ihrem Tisch. Er war in schwarzes Zivil mit steifem Kragen und blütenweißen Manschetten gekleidet, trug nur ein goldenes Kreuzchen am Revers seines Anzugs, war aber unverkennbar ein geistlicher Herr – ein würdiger Greis mit dem Aussehen eines Apostels. Ein silberner Bart hing ihm so tief auf die Brust herab, dass nur Geschick und Übung ein Eintauchen in die Suppe verhinderten.
    Anna Lisa hatte sich Sorgen gemacht, worüber sie mit einer so heiligmäßigen Persönlichkeit beim Mittagessen reden sollte, aber Dr. Semmelbrod nahm ihr diese Sorge ab, indem er ausschließlich selbst redete. Er stellte sich als Pfarrer einer spiritistischen Gemeinschaft vor, eine Berufsbezeichnung, mit der Anna Lisa nicht viel anzufangen wusste. Spiritisten waren ihr ein Begriff, aber dass sie ihre eigenen Pfarrer hatten, war ihr neu. Es kümmerte sie auch nicht weiter. Religion und Politik waren zwei der Themen, bei denen sie sich schon im väterlichen Haushalt nie zu Wort gemeldet hatte – genauer gesagt, bei denen Elmer Lobrecht seiner Tochter von Anfang an den Mund verboten hatte.
    Semmelbrod fragte, ob sie Java kenne.
    Sie schüttelte den Kopf. Nein, im Grunde wusste sie gar nichts über die Insel, nur das bisschen, das in Meyers Konversationslexikon stand, und hin und wieder hatte sie zugehört, wie die Kapitäne ihres Vaters bei Tisch davon sprachen.
    »Es ist ein unglückseliges Land, in das Sie fahren«, sagte er, »und wir Europäer sind es, die das Unglück dorthin gebracht haben.«
    Da er ihr ohnehin keine Gelegenheit geben würde, Zwischenfragen zu stellen, blickte sie ihn nur aufmerksam fragend an und löffelte weiterhin ihre Suppe.
    Dr. Semmelbrod, der wenig aß und viel redete – und zudem viel trank, wie ihr auffiel –, konnte sehr spannend erzählen, sodass sie ihm bald aufmerksamer zuhörte, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Bei diesem Zuhören musste sie erleben, wie ihr bisheriges Weltbild Risse bekam. Sie hatte gewusst, dass der Kaffee und die anderen kostbaren Kolonialwaren von Plantagen kamen, die von Europäern bestellt und abgeerntet wurden. Aber niemand hatte ihr erzählt, dass diese Plantagen ursprünglich den Leuten von Java gehört hatten. In ihrer unbestimmten Vorstellung waren die Javaner besitzlose Wilde gewesen, die wie Adam und Eva durchs Paradies durch die duftenden Blumengärten ihrer Insel streiften und wie die Lilien auf dem Felde von dem lebten, was ihnen in den Schoß fiel. Jetzt hörte sie, dass auf der Insel mächtige hindu-buddhistische Reiche existiert hatten, später dann islamische Sultanate, die sich vor einem europäischen Königreich nicht zu schämen brauchten. Sogar einen Kaiser hatte es eine Zeit lang gegeben.
    »Ja«, sagte Pfarrer Semmelbrod, »das waren große Zeiten … wiewohl ich nicht behaupten will, dass diese Sultane, Fürsten und Kaiser immer nur edle Menschen gewesen wären, die ihrem Volk dienten. Viele von ihnen waren grausame, gierige und rücksichtslose Schurken. Aber immerhin: Sie waren Einheimische, und wie unsere armen Bauern sich von ihren Rittern und Kaisern alles gefallen ließen, weil sie an deren Gottesgnadentum glaubten, so war es auch in Java. Doch dann kamen Fremdlinge aus dem Westen, die sich zu Herren des Landes machten. Sie sahen die Fruchtbarkeit des Bodens, und sie beauftragten den armen Bauern Javas, in einer Art Frondienst einen Teil seiner Arbeit und seiner Zeit ihren Interessen zu widmen. Es genügte nicht mehr, dass Reis und Gemüse angebaut wurden, um die Bevölkerung zu ernähren. Die neuen Herren wollten Früchte auf den Äckern und Plantagen wachsen sehen, die mehr Gewinn abwerfen würden auf den Märkten von Europa: Kaffee, Gewürze, Zuckerrohr. Um den geringen Mann hierzu zu bewegen, war nicht mehr als eine sehr einfache Staatskunst nötig. Von alters her war der Javaner seinen Fürsten gehorsam gewesen. Man brauchte also nur diese Fürsten vor den eigenen Karren zu spannen, indem man ihnen einen Teil des Gewinnes zusagte – und es glückte vollkommen. Hätte sich denn irgendein deutsches Bäuerlein dagegen gewehrt, dem Kaiser und seinen Reichsfürsten gehorsam zu sein, selbst zum eigenen Schaden?«
    Anna Lisa meinte, der Bissen müsste ihr im Hals

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