Die Traenen des Mangrovenbaums
hastig vor etwas Unsichtbarem. »Ein gewöhnlicher Hund, ja, bei einem gewöhnlichen Hund hätten Sie recht, ein Vieh, ein Köter … aber Sie sehen doch selbst, dass in diesem Wesen …« – er brachte das Wort »Tier« nicht über die Lippen – »… ein Dschinn wohnt, ein sehr mächtiger Geist, und wenn er erzürnt wird, was dann? In Java werden wir den Schutz der Erhabenen brauchen. Dort gibt es viele Dschinn, und viele von ihnen sind Shayatin, böse, teuflisch … Diese Shayatin sind Diener der Suduks, der Zauberer, und das sind oft bösartige, menschenfeindliche und machtgierige Männer, denen es nur darum geht, dass man ihnen mit Furcht und Unterwürfigkeit begegnet. Das Volk hat große Angst vor den Suduks. Sie können Krankheitsdämonen beschwören, sich unsichtbar machen, sich in Tiere verwandeln … Die Erhabene wird sie von uns fernhalten, aber nur, wenn wir sie mit Ehrfurcht behandeln!«
Fräulein Bertram schnaubte angewidert, als sie mit diesen Ansichten konfrontiert wurde. Aber sie war eine praktisch denkende Frau und gab Anna Lisa zu verstehen, dass in der Wildnis Javas ein riesiger und obendrein noch als mächtiger Dschinn betrachteter Hund ein unschätzbarer Gefährte sei. Auf jeden Fall aber sei es klug, einem Mann seinen Willen zu lassen. Sollte er mit seinem Hund schwätzen, als könnte der ihn verstehen! Das war immer noch um vieles besser als die Gesellschaft der Schnapsflasche oder Opiumpfeife, der andere seelisch labile Männer zum Opfer fielen.
Allerdings drückte die ehemalige Missionshelferin das nicht so geradlinig aus. Erstens sprach sie überhaupt nicht viel, und zweitens vermied sie es generell, über den gnädigen Herrn zu sprechen. Aus irgendeinem Grund hatte er sich ihre Zuneigung verscherzt, vielleicht durch sein Fluchen – obwohl er wirklich nur geflucht hatte, als ihm sein verletztes Bein erbärmlich wehtat und ihn obendrein die Frustration einer verpatzten Hochzeitsnacht überkommen hatte. Jedenfalls ignorierte sie ihn.
Wenigstens ließ sich Tietjens dazu herab, mit Anna Lisa auszugehen, wenn Pahti nicht zur Verfügung stand. Sie schritt dann würdevoll neben der jungen Frau her, den massigen, faltigen Kopf mit seiner eigentümlichen Färbung hoch erhoben, den Blick in hoheitsvoller Verachtung ins Leere gerichtet. Damit zog sie zwar die Blicke aller auf sich, aber sie verhinderte gleichzeitig, dass irgendjemand, sei es Mann oder Frau, die Gesellschaft der deutschen Dame suchte. Niemand hatte Lust, dem Fila Brasileiro in die Nähe zu kommen.
Simeon vermisste die Spaziergänge mit seinem Hund sehr. Er versuchte jeden Tag aufzustehen und war dann wütend, wenn er es bestenfalls bis zum Ohrensessel neben dem Bett schaffte.
Anna Lisa suchte ihn zu trösten, indem sie auf Dr. Lutters Fürsorge verwies.
»Nun, ich hoffe, der tüchtige Doktor wird mich bald wieder auf die Beine bringen.« Ein listiger Blick flitzte zu ihr herüber. »Was hältst du eigentlich von ihm?«
Eine der Lebensweisheiten, die Anna Lisa in einem Haushalt voller Männer gelernt hatte, war: Alle Männer sind eifersüchtig auf ihresgleichen. Mit diplomatischem Geschick antwortete sie: »Ich kann nicht viel sagen. Du bist sein Patient. Du musst beurteilen, ob er ein guter Arzt ist. Jedenfalls war es sehr nett von ihm, mich zum Essen zu begleiten. Gleich am ersten Tag in einem riesigen Speisesaal voll fremder Menschen allein an einem Tisch zu sitzen, wäre mir schon sehr unangenehm gewesen. Aber ehrlich gesagt wäre es mir lieber, hier mit dir zu essen.«
»Nein, das will ich nicht. Wenn mich schon einer füttern muss, dann soll es Pahti sein. Ich werde dafür sorgen, dass sich im Speisesaal ein Kavalier um dich kümmert. Sobald ich wieder gesund bin, sind wir ohnehin vierundzwanzig Stunden am Tag beisammen.«
Erst sträubte sie sich, aber sein Vorschlag war keineswegs ungewöhnlich. Es war üblich, dass allein reisende Damen die Dienste eines Kavaliers in Anspruch nahmen. Die Sitte verlangte, dass eine Frau einen Beschützer hatte, auch wenn niemand so recht wusste, wovor er sie in der ersten Klasse eines Hochseedampfers hätte beschützen müssen. Es gehörte sich eben so, und Anna Lisa gab nach.
Tatsächlich arrangierte Simeon mit dem Kapitän, dass ein allein reisender Geistlicher an ihren Tisch gesetzt wurde. Anna Lisa war froh darüber, trotz ihrer Behauptung, sie hätte lieber mit ihm gegessen. Unter normalen Umständen hätte sie die Gesellschaft ihres jungen Ehemannes der eines frommen
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