Die Traenen des Mangrovenbaums
gefährlichen Folgen langen unbeweglichen Liegens verordnet hatte, wagte er nicht, sein übliches letztes Mittel anzuwenden und sich selbst zu verletzen. Wenn er früher nicht mehr weitergewusst hatte, weil er überall an Mauern rannte, war ihm diese eine geheime Tür offen gestanden. Es hatte ihn erleichtert, wenn er die Messerklinge ins Fleisch bohrte, bis er sich vor Schmerz in die Lippen biss und ihm die Tränen aus den Augen sprangen, wenn er sein eigenes Blut aus der Haut quellen sah. Jetzt, wo er ständig unter Beobachtung stand, konnte er das nicht mehr tun. Und so blieb ihm nur die eine, klägliche Erleichterung, niederträchtig zu der Frau zu sein, die er liebte.
Eine kleine Freude allerdings hatte er, und das war Pahtis Zuwendung. In seinem ganzen Leben war Simeon Vanderheyden keine väterliche oder brüderliche Zärtlichkeit zuteilgeworden, nicht einmal so etwas wie ein Schulterklopfen. Wie sehr dieser Mangel ihn geschmerzt hatte, wurde ihm erst so richtig bewusst, als plötzlich ein Mann in seinem Leben auftauchte, der liebevoll um ihn besorgt war. Selbst der misstrauische, verbitterte Jüngling spürte, dass Pahti kein Mietling war. Der Javaner war ein Diener von der Art, die sich ihrem Herrn mit Leib und Seele verpflichtet fühlten. Er umsorgte ihn zärtlicher als eine Mutter, und doch spürte Simeon in jedem Augenblick, dass er ein Mann war – ein Mann, der vom Alter her fast sein Vater hätte sein können. Ein seltsames, bittersüßes Gefühl durchströmte ihn, wenn er den Kopf auf den sehnigen braunen Arm sinken ließ und die mageren, knotigen Hände sanft seinen Rücken wuschen oder seine vom Liegen verkrampften Schultern massierten, wenn die weiche Stimme mit ihrem melodischen Singsang in sein Ohr tönte: »Ruhig, Mijnheer, nur ruhig, gleich wird es besser, es geht schon, Mijnheer wird frei von Schmerzen sein und ruhig schlafen in dieser Nacht …«
Aber der getreue Pahti, der seinen jungen Herrn so in den Schlaf sang wie ein Kind, fand selbst keine Ruhe. Er machte sich große Sorgen um den Kranken. Vom ersten Tag in Simeons Diensten war er der Überzeugung gewesen, dass er es mit einem grundsätzlich gutartigen, aber von bösen Geistern gepeinigten Menschen zu tun hatte. Pahti war kein Dummkopf. Er hatte registriert, dass der Jüngling sich gewohnheitsmäßig selbst verletzte; er hatte auch sehr rasch entdeckt, wie sehr die Lust ihn quälte. Diese Erkenntnis hatte keine moralische Entrüstung in ihm ausgelöst. Die Javaner dachten in diesen Dingen anders als die norddeutsche Christenheit. Für sie gab es keine Erbsünde, keine böse fleischliche Lust, keine Selbstbefleckung, die schamvoll gebeichtet werden musste. Zwar waren sie durchwegs der Meinung, dass der geordnete Platz dieser Dinge in der Ehe war, aber wenn es nun einmal nicht anders ging, weil ein Mann krank war oder keine Frau hatte – nun, wenn es juckte, musste man sich kratzen. Das war auf jeden Fall viel gesünder und vernünftiger, als im Schlaf von der Lust überfallen zu werden, denn die Erektionen eines Träumers lockten böse, die Lebenskraft aussaugende Geister an. Diese Leyak, angeführt von ihrer schrecklichen Königin Rangda, ernährten sich von der Lebensenergie schlafender Menschen, mit denen sie sich nachts paarten – ein Vorgang, von dem die Schläfer nichts mitbekamen. In Java war man überzeugt, dass die Menschen, die von einem Leyak heimgesucht wurden, fortan besessen waren und nur noch ihre sexuelle Erfüllung im Sinn hatten. Sie lebten einzig und allein für das Zusammensein mit dem Unhold, und da diese immerwährende sexuelle Orgie an ihren Kräften zehrte, verfielen sie körperlich; ausgemergelt und ihrer Körperflüssigkeiten beraubt starben sie einen kläglichen Tod durch Vertrocknung.
Anfangs war Pahti die Gefahr nicht so groß erschienen. Sein Herr stand kurz vor der Hochzeit, die liebliche kleine Mevrouw würde schon dafür sorgen, dass die Leidenschaft des Jünglings in geregelten Bahnen dahinströmte. Aber jetzt würde er lange Zeit nicht fähig sein, seine Ehe zu vollziehen. Dieser Sturz von der Treppe! Pahti hatte sofort den Verdacht gehabt, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Zweifellos hatte ein Sukkubus seine Hand im Spiel gehabt. Ja, so musste es sein: Der böse, lüsterne weibliche Dämon hatte verhindern wollen, dass ihre Beute sich ihr entzog. Sie würde auch weiterhin daran arbeiten, dass ihr Opfer in ihren Krallen verblieb.
Wären sie nur schon in Java gewesen! Dann
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