Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
Vom Netzwerk:
unsichtbaren Hand gedreht und in ein tiefes Wellental gestürzt. Anna Lisa schrie vor Schrecken, als eine Schute von der Flutwelle so hoch gehoben wurde, dass ihre Schraube aus dem Wasser ragte und die kleinen Boote steuerlos wie Kronenkorken in dem aufgewühlten Meer tanzten. Doch blieb diese Welle die einzige. Das Meer beruhigte sich rasch wieder, und soweit Anna Lisa sehen konnte, hatten alle Boote und Schiffe die Flutwelle unbeschadet überstanden. Auch die Feuerstöße und der sie begleitende Lärm ließen nach. Dafür senkte sich eine dunkelgraue Aschenschicht aus dem verhangenen Himmel herab und bedeckte das Meer. Von Deck zu Deck blitzten die Signallampen durch den Aschennebel, als alle Schiffe im Umkreis ihre Beobachtungen weitergaben.
    Es herrschte jetzt über der Sundastraße, soweit die junge Frau sie nach beiden Richtungen überblicken konnte, eine so tiefe Dämmerung, dass es nicht mehr möglich gewesen wäre, ohne Lampe zu lesen, und in diesem Zwielicht fiel ein feiner, beständiger, lauwarmer Aschenregen. Eine leichte Brise aus Südsüdost blies Wolken von Schwefelstaub über das Wasser, die immer dichter wurden, bis das ganze Schiff von einer gleichmäßigen, grauen Staubschicht bedeckt war. Schon sahen Deck und Aufbauten, Seilrollen und Seekisten aus wie mit grauem Reif bedeckt. Die nackten Füße der Matrosen, die wie aufgescheuchte Ameisen an Deck herumwimmelten, hinterließen geisterhafte Spuren darin.
    »Orang Alijeh!«, klagten die einheimischen Matrosen, die dem Lotsen zur Hand gingen. »Orang Alijeh!«
    Anna Lisa fühlte ihr Herz vor Erregung klopfen. Siebzehn Jahre lang hatte sie so gut wie gar nichts erlebt, und nun blickte sie hier auf eine Szenerie, die sie sich niemals hätte ausmalen können. Sie zitterte am ganzen Leib, dennoch hätte sie das Erlebnis nicht missen wollen.
    Aufgeregt eilte sie in die Kabine und fand Simeon mit erstaunlicher Gelassenheit im Bett liegend vor, Tietjens an seiner Seite.
    »Wie siehst du denn aus?«, rief er ihr entgegen. »Bist du durch den Kamin gekrochen?«
    »Hast du denn nichts gehört? Ein Vulkan ist ausgebrochen!«
    »Ja, ein kleiner und ziemlich weit weg von hier. Pahti sagte, wir hätten nichts zu befürchten, und ich sollte lieber nicht hinausgehen, weil die Luft giftig sei.«
    »Aber es war ein unglaubliches Erlebnis! O Simeon, du hättest es sehen sollen! Es war wie … es sah aus wie die Illustrationen in der Bibel, Nacht und Flammen überall und Asche, die wie Schnee aus dem Himmel fiel …«
    »Und kleine Frauen so schmutzig macht, dass man sie nicht mit der Feuerzange anfassen möchte. Komm, geh dich waschen und umziehen, danach kannst du mir alles ganz genau erzählen.«
    Verärgert verließ sie die Kabine. Er hatte ja recht, was ihr Aussehen anging, das musste sie zugeben, als sie sich in dem mannshohen Spiegel in ihrem Boudoir betrachtete. Sie sah aus wie ein Schornsteinfeger. Aber hätte er nicht ein wenig mitfühlen können, als sie so begeistert und entsetzt zugleich von dem Naturschauspiel erzählte? Ja, ein Blumenregen hätte vom Himmel fallen müssen! Da wäre er hinausgestürzt, ganz egal, ob die Luft giftig war oder nicht! Interessierte den Mann denn überhaupt nichts außer seinem Grünzeug?
    Sie rief Fräulein Bertram, um sich wieder in eine gepflegte Dame verwandeln zu lassen, und musste auch noch deren Schelte über sich ergehen lassen, dass sie sich leichtsinnig einer Gefahr ausgesetzt hätte. Außerdem war die Aschenschmiere reichlich zäh, es dauerte lange, bis sie ihr Haar gewaschen hatte und ihr Gesicht wieder seinen üblichen zart-blassen Teint zeigte. Und als sie dann zu Simeon zurückkehrte, sagte er, sie rieche nach Schwefel wie eine kleine Teufelin.
    »Gut«, sagte sie und setzte sich weit weg von ihm ans andere Ende der Kabine. »Ich werde dir nicht wieder in die Nähe kommen, wenn du mich einen stinkenden schwarzen Teufel nennst.«
    Simeon ahnte, was »nicht wieder in die Nähe kommen« bedeutete, und ruderte erschrocken zurück. »Stinkender schwarzer Teufel habe ich nicht gesagt! Nur dass du ein bisschen nach Schwefel riechst. Und das ist ja nicht so schlimm, alles riecht nach Schwefel.«
    Anna Lisa hob die Hände hinter den Kopf und zeigte mit den beiden Zeigefingern zwei Hörner. »Hüte dich vor der Teufelin!«
    »Jetzt sei nicht beleidigt, komm.« Er streckte schmeichelnd beide Hände aus. »Lass uns ein bisschen zusammen sein. Ich habe doch nur gesagt, du sollst dich waschen, weil du ausgesehen hast, als

Weitere Kostenlose Bücher