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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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anlegen. Die Passagiere, die zu den Küstenstädten an der Sundastraße wollten, mussten entweder in Anjer aussteigen und zu Land weiterreisen oder von Batavia aus den Postdampfer nehmen, der die Strecke nach Padang zurückfuhr und in jedem Hafen Station machte.
    Anna Lisa war schon zutiefst beeindruckt gewesen von den verwüsteten Inseln vor der Küste von Sumatra, aber ihr stand ein noch weitaus aufregenderes Erlebnis bevor. Als sie sich Anjer näherten, hallte vom Leuchtturm am Fourth Point das melancholische Brüllen des neuen Nebelhorns herüber, das erst kürzlich die traditionelle Nebelglocke abgelöst hatte. Da kein Nebel aufzog und kein Wölkchen am Himmel stand, musste das Horn vor einer anderen Gefahr warnen.
    Sie wandte sich an Pfarrer Semmelbrod, der neben ihr an der Reling lehnte. »Was bedeutet das?«
    Aber noch bevor er antworten konnte, ertönte von Norden her ein leises Grollen wie von ferner Artillerie. Dann wurde aus dem Grollen ein Rumpeln, ein Schatten zog über die Sonne, und die Luft erbebte in einer eigentümlichen Weise. Dem Rumpeln folgte ein dumpfes Donnern wie eine Folge von näher kommenden Kanonenschüssen, untermischt mit einem immer wieder stockenden und neu losbrechenden Prasseln. Die Luft vibrierte. Anna Lisa hielt den Atem an, als sie diese unheimlichen Geräusche hörte, deren Gewalt auf den Trommelfellen schmerzte. Gleichzeitig wurde es rundum immer dunkler, wie sie es in Hamburg erlebt hatte, wenn die Sturmwolken von der Nordsee hereingaloppierten wie die Pferde der wilden Jagd. Der Ozeanriese pflügte mit gedrosselten Maschinen langsam durch einen geisterhaften rötlichen Nebel, der alles rundum verzerrte. Irgendwo mussten die Flammen eines gewaltigen Brandes lodern, aber sie konnte ihren Ursprung nicht sehen, denn nach Norden zu war es, als sei die Nacht angebrochen. Bimsschollen tanzten rund um das Schiff auf dem Wasser. Anna Lisa schien es, dass sie immer weiter in eine Traumwelt vordrang. Ihre Brust hob und senkte sich mit einem Gefühl der Erregung. Nie hatte sie die Natur so in ihrer ungezähmten Form erlebt, nicht einmal, als eine Kältewelle und ein schrecklicher Schneesturm ganz Hamburg in einen Eispalast verwandelt hatten und den Leuten Eiszapfen an der Nase hingen, wenn sie sich auf die Straße hinauswagten.
    Dr. Semmelbrod empfahl ihr gerade, in die Kabine zu gehen, damit sie nicht zu viel von der giftigen Luft in die Lungen bekam, als der Nebel zerriss und den Blick freigab auf eine senkrecht in die Höhe schießende Dampfsäule, die dem Vulkanschlot einer Insel entstieg. Ihr Stamm färbte sich rasch mit einem feurig glühenden Rot, während der pilzförmige Schirm erst grau und dann schwarz wurde. Blitze zuckten darin. Wie eine Molluske ihre Fangarme nach allen Seiten schleudert, schlängelten sich aschgraue Finger aus der Wolke hervor, wurden breiter und flacher und sanken als schwebende Schleier zu Boden. Ein feurig rotes Leuchten hing, kreisförmig wie der Schein aus einem Ofenloch, über dem brennenden Berg. Es erhellte nichts außer der Unterseite der Wolken und der Rauchsäule, die in immer wilderen Arabesken aus dem Schlot hervorbrodelte und der fassungslosen Anna Lisa wie der Tunnel in eine andere Dimension erschien. Alles um sie bebte, die Luft, das Meer, die unheimlich wabernde Wolke über dem Berg. Die biblische Geschichte kam ihr in den Sinn von den Israeliten, die Gott durch die Wüste geleitet hatte: Bei Tag wies ihnen eine Wolkensäule den Weg, bei Nacht eine Feuersäule.
    Der Eruption folgte ein ungeheuerlicher Lärm. Das Krachen der rasch aufeinanderfolgenden Detonationen war ohrenbetäubend. Die schrecklichen Geräusche klangen, als würde eine endlose Ankerkette unter niederschmetterndem Kreischen und Krachen hochgezogen, wobei die Schäkel laut gegen die Schiffswand knallten. Unter den Passagieren, die neugierig auf das Schauspiel gestarrt hatten, brach Panik aus, obwohl der Feuer speiende Schlot sich in einigen Kilometern Entfernung befand. Alles stürzte zu den Türen, die ins Schiffsinnere führten.
    Auch Anna Lisa wandte sich zur Flucht, als das Meer ohne Vorwarnung in wütende Bewegung geriet. Ringsum schossen turmhohe Wasserhosen in die Höhe. Eine gewaltige Welle rollte herbei, eine bleiche Wassermasse, die sich unter die Anne-Kathrin schob. Der Hochseedampfer schwankte nur ein wenig, aber den kleineren Schiffen erging es schlecht. Sie wurden hin und her geschleudert, tänzelten erst auf dem Wellenkamm und wurden dann wie von einer

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