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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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lachte er in unvernünftiger Freude.

    Frische Tropfen sprenkelten seine Windschutzscheibe, als er durch einen Durchbruch in der Steinmauer, die einst die Grenzen der Farm markiert hatte, in sein Wohnviertel einbog. PRIVATWEG stand auf einem Schild. Eine Frau in Weiß – glänzender Vinylregenmantel, geschwollen aussehende weiße Laufschuhe – ging in der Mitte der schmalenStraße. Mit flatternden Handbewegungen bedeutete sie ihm anzuhalten. Er erkannte eine Nachbarin, eine schmächtige Blondine, die erst vor wenigen Jahren mit ihrem Mann und zwei halbwüchsigen Söhnen hierhergezogen war, in ein Haus, das man von dem der Morris’ aus nicht sehen konnte. Sie trafen einander nur ein paarmal im Jahr, auf Cocktailpartys oder bei Anhörungen über Bebauungspläne. Sie sah wie ein Geist aus, der ihm Zeichen machte. Er bremste und ließ das Autofenster herunter. «O
Evan »
, hauchte sie erleichtert. «Sie sind es. Was ist passiert? Ich hab überhaupt keinen Strom, sogar die Telephone sind tot.»
    «Meine auch», sagte er, um sie zu trösten. «Bei allen. Ein Baum muss irgendwo auf eine Stromleitung gefallen sein, bei diesem Wind. So was kommt vor, Lynne.» Er freute sich, dass er ihren Namen aus seinem Gedächtnis hatte kramen können: Lynne Willard.
    Sie kam dicht an sein offenes Fenster, und er sah, dass sie tatsächlich zitterte, ihre Lippen waren in den Winkeln nach unten gezogen wie die eines Kindes, das den Tränen nah ist. Ihre Augen starrten über sein Autodach in die Bäume, als suche sie Rettung in den Kronen. Dann senkte sie den Blick, um ihm ins Gesicht zu sehen, und erklärte mit unsicherer Stimme: «Willy ist weg. In Chicago, die ganze Woche. Ich bin hier oben ganz allein, jetzt, wo die Jungen beide im Internat sind. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, da hab ich mir meine Sneakers angezogen und bin losgegangen.»
    Evan erinnerte sich an die Jungen, sie waren laut und hatten etwas Durchtriebenes, wie sie da in ihren Blazern auf den Tagesschulbus am Ende der Straße gleich außerhalb der eingestürzten Feldsteinmauer warteten. Wenn sie jetztalt genug fürs Internat waren, dann war diese Frau nicht so jung, wie sie wirkte. Ihr Gesicht, verschmälert durch ein unterm Kinn geknotetes Kopftuch, war blass, bis auf die Nasenspitze, die rosa war wie bei einem Kaninchen. Auch ihre Lider waren rosa; sie sahen wund gerieben aus, und ihre Augen tränten. Er fragte sich, ob sie trank, tagsüber. «Mir gefällt Ihre Kappe», sagte sie, um das sich hinziehende Schweigen zu durchbrechen. «Sind Sie ein Fan?»
    «Nicht mehr als üblich.»
    «Sie haben die World Series gewonnen.»
    «Stimmt. Steigen Sie ein, Lynne», sagte er; seine Fähigkeit zu trösten vertiefte sich gerade. «Ich fahre Sie nach Hause. Downtown ist nichts los. Niemand weiß, wie lange der Stromausfall dauert. Nicht einmal die Bank und die Post wissen es. Der einzige Laden, der geöffnet hatte, war das Reformhaus.»
    «Ich habe einen Spaziergang gemacht», sagte sie, als ob das noch nicht zur Genüge feststünde. «Ich kann noch weitergehen.»
    «Sehn Sie’s denn nicht? Jeden Augenblick fängt der Regen wieder an. Der Himmel macht gleich sämtliche Schleusen auf.»
    Blinzelnd, die Lippen zusammenpressend, damit sie nicht zitterten – die untere hatte die Eigenart, dauernd zur Seite zu zucken – ging sie vor seinen Scheinwerfern auf die andere Seite. Er beugte sich über die Sitze, um am Türgriff zu ziehen und die Beifahrertür für sie aufzustoßen, als könnte sie das nicht selber tun. Auf weißem Vinyl hereinrutschend, gestand sie: «Es war so ein Piepton im Haus, von dem musste ich weg. Willy ist nicht einmal in Boston, wo ich ihn anrufen könnte.»
    «Ich denke, das ist Ihre Einbruchsanlage», erklärte Evan ihr. «Oder irgendeine andere Alarmanlage, die nicht gern ohne Saft ist. Ich komme mit hinein, wenn ich darf, und sehe mir das Problem mal an.»
    Sie hatte einen angenehmen Geruch mit ins Auto gebracht, einen Geruch aus seiner Kindheit – Hustenbonbons oder Lakritze. «Sie dürfen», sagte sie und setzte sich auf seinem ledernen Autositz zurecht. «Ich hatte solche Angst», fügte sie hinzu, mit ironisch verzogenem Mund, als ob sie über sich lachen wolle oder über ein Ich, das es lang nicht mehr gab.
    Er war noch nie im Haus der Willards gewesen. Ihre Auffahrt war mit ausgefalleneren Gewächsen gesäumt als die der Morris’ – knorrige kleine Azaleen, schon ohne Laub, und Euonymus, der immer noch diesen surrealen herbstlichen

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