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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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stellte er sich manchmal vor, schwebte behütend über ihm und beaufsichtigte sein Schicksal, indes er sich im Nebel vorankämpfte.
    Er trat von seinem Amt als Co-Captain der kirchlichen Spendenaktion zurück. Dies und der Verzicht auf Kaffee und Zigaretten verschafften seinem Magen ein wenig Erleichterung, aber der scheuernde Schmerz ging nicht weg, bis Leila plötzlich, ohne je zu erklären, warum, Pete, ihrem Mann, alles gestand. Im selben Jahr zogen sie nach Florida; wenige Jahre später kam die Nachricht, dass sie geschieden seien. Ihre Ehe war ihm immer ein Rätsel gewesen. «Er braucht mich nicht», hatte sie einmal gesagt und war, was sonst nie vorkam, in Tränen ausgebrochen, während sie einen Punkt irgendwo über seiner Schulter fixierte. «Er braucht mein Arschloch.» Henry konnte nicht glauben, was er hörte, und wagte nicht, sie um nähere Auskunft zu bitten. Es gab vieles, fiel ihm auf, das er nicht wissen wollte. Wenn das Leben ihm auch Beförderungen im Beruf bescherte und Ferien in Florida und Maine und Enkelkinder und seine Verkörperung eines wohlerzogenen Stocks unter Irenes Anleitung immer überzeugender wurde – eine Liebesbestie gab es nie wieder. Solche Feuer brennen das Feld nieder.

    Als Irene in ihren Sechzigern war, starb sie an Krebs, und er war frei. Über seine Freunde – diese unentrinnbaren, allwissenden Freunde – war er Leila auf der Spur geblieben und wusste, dass sie noch zweimal geheiratet hatte und jetzt wieder unverheiratet war: der erste nach Pete war ein älterer Mann gewesen, der ihr ein bisschen Geld hinterlassen hatte, der zweite war jünger als sie gewesen und hatte sich, natürlich, als ungeeignet erwiesen. Henry erfuhr ihre Adresse undschrieb ihr einen Brief, in dem er vorschlug, dass er sie besuche. Er und Irene hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, im Winter für zwei Wochen nach Florida zu fahren und sich in ihrem Lieblingshotel auf einer Insel vor der Golfküste einzuquartieren – eher Irenes Lieblingshotel als seines. Es roch nach lasiertem Kiefern- und Teakholz, und in den langen Korridoren waren ausgestopfte Tarpune und Schwertfische an den Wänden befestigt und alte Photographien von Fischfangpartys und Hurrikanverwüstungen; auf den sonnigen breiten Treppenabsätzen standen Glaskästen mit Muschelsammlungen, die Tinte auf den trockenen, an den Rändern sich hochbiegenden Schildchen war verblasst. Es roch nach einem Florida, das noch eine abgelegene Gegend war, das spartanische Paradies reicher Männer, und nicht der Vergnügungspark und das Pensionärsheim der großen Demokratie. Aber seit Irenes Tod, nach den zwei Jahren gemeinsam durchlittener Qualen, nach den mühevollen Fahrten ins Krankenhaus, den aufkeimenden und sinkenden Hoffnungen, der endgültigen Hoffnungslosigkeit und dann nach diesen posthumen Monaten der Erleichterung und Trauer und betäubend fortdauernder Abwesenheit hatte Henry eine Scheu entwickelt, von den Reisepfaden abzuweichen, die Irene für sie beide festgelegt hatte.
    Das Hotel lag an der Westküste, südlich von Port Charlotte, und Leilas Condo war an der Ostküste, in Deerfield Beach, nördlich von Fort Lauderdale, und so war es eine beschwerliche Fahrt, nach Süden und dann nach Osten in die Sonne, gegen den, wie ihm schien, massiven Verlauf der Maserung in der struppigen Everglades-Landschaft. Die Ostküstenüberfülltheit – die vielen aggressiven dunkelhäutigen Fahrer, die Blocks eingeschossiger Häuser mit weißen Dächern,die über Meilen hin in die flachen Sandweiten gestellt worden waren, nahmen ihm die Orientierung. Das Alter, entdeckte er, brachte einen Zuwachs an Unsicherheit. Straßenschildern, Rückspiegeln und seiner Fähigkeit zu improvisieren war nicht mehr zu trauen. Er fragte dreimal nach dem Weg, steuerte fort von den jungen Leuten auf den hellen Straßen und hielt sich neben schreckhaften und vorsichtigen Senioren, bis er Leilas Condocomplex fand; mit zusammengekniffenen Augen machte er den richtigen Eingang ausfindig und den versteckten Besucherparkplatz. Dann stand er in einem von zwei Stockwerken umschlossenen weiten viereckigen Innenhof, auf den in jeder Etage eine Wohneinheit mit verglaster Sonnenveranda hinausging. Ein Stück bekritzeltes Papier in der Hand, verglich er die notierte Nummer mit einer an einer Tür im Parterre: sie stimmten überein. Als auf sein Klingeln geöffnet wurde, hatte er Mühe, die Leila seiner Erinnerung und Imagination in Beziehung zu bringen mit der winzigen Frau, deren

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