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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Oberlicht, er konnte das Rechteck, struppig eingefasst von herabgefallenen Zweigen und Kiefernnadeln, in der feuchten Konvexität ihrer bestürzt blickenden Augen sehen.
    Seine Mutter hatte sich für seine Frau nie erwärmen können: Irene war zu großstädtisch, zu korrekt, zu stoisch. Henry war durch sie auf der Leiter eine Sprosse höher, in eine Familie gutsituierter Anwälte, Banker und Professoren aufgestiegen, aber zu Hause, im engen ständigen Miteinander, waren Irenes Intimitätsbewilligungen knapp bemessen und wurden immer knapper. Henry gab sich Mühe, seine Bedürfnisse einzuschränken, um sich anzupassen, und fand durchaus Gefallen an seiner zunehmenden Trockenheit, seiner immer müheloser gelingenden Verkörperung eines wohlerzogenen Stocks. Seine Mutter, deren unerfüllte Hoffnungen den Ambitionen für ihren Sohn etwas allzu Blühendes gaben, sah diese häusliche Eingeschnürtheit und hegte einen Groll dagegen; ihr Groll bestärkte ihn, als er, mitLeila intensiver als mit etlichen anderen, vom Pfad ehelicher Treue abwich und die wilde feuchte Luft der Natur atmete.
    Feucht: er vergaß nie, wie Leila sich an einem sonnigen, aber kühlen Oktobertag plötzlich auszog und vom noch nicht abgebauten Anlegeponton einen perfekten Hechtsprung – ihr Hinterteil ein jähes weißes Herz, in der Mitte gespalten, im Zentrum seines Blickfelds – in den See vollführte. Sie tauchte auf, ihr Kopf war so klein und nass wie der eines Otters, ihre Lider flatterten, und ihr Mund rief:
«Huuuh!»
    «Bist du nicht halb tot?», fragte er, angezogen auf dem wackeligen Ponton stehend und sich ängstlich nach spionierenden Fremden umsehend, die hinter all diesen herbstlichen Bäumen auf der Lauer liegen könnten.
    «Ich bin in Ekstase!», sagte sie und schnitt eine Grimasse, um ihre Zähne am Klappern zu hindern. «Man muss sich nur trauen, dann erlebt man’s. Komm schon, komm rein, Henry.» Wassertretend breitete sie die Arme aus und stieß sich hoch, sodass ihre schimmernden Brüste entblößt waren.
    «O nein», sagte er, «bitte», hatte aber keine Wahl, als er sah, dass dies ein erotischer Wettstreit war; er zog sich aus, legte seine Sachen gefaltet ein gutes Stück entfernt vom Gespritz ab und wagte ungelenk einen herzstockenden Sprung ins schwarze Seewasser. Die rosa Blätter von Rotahornen, zu flachen Bootsformen verwelkt, trieben nah vor seinen Augen, als er hochkam; sein untergetauchter Körper fühlte sich geschwollen und glühend heiß an, als ob ein Blitz ihn getroffen hätte. Leila kraulte mit kräftigen Zügen von ihm fort, zur Mitte des Sees hin, ihre sehnigen Füße wirbelten weißschäumendes Wasser auf. Er rang nach Luft und paddelte wie ein Hündchen zum Ponton zurück und sah aus dieser tieferenPerspektive die Bäume ringsum als die Seiten eines goldenen Brunnens, eine Umfriedung, die ihn im Mittelpunkt des umgrenzten Himmels hielt. Dies war einer der Momente, erkannte er, da ein Leben die Früchte erntet, die die Natur bereithält. Dies war Gesundheit: der kleine nasse Kopf, die glänzenden Otteraugen, der kleinbrüstige Körper, ihm zur Verfügung, wenn die Elektrizität aus seinen Adern ebbte und ihrer beider Haut trocken gerubbelt war mit den Handtüchern, die Leila vorsorglich mitgebracht hatte.
    Aber selbst dann drängte die weniger gesunde Welt sich dazwischen. Er fragte sich, ob Irene wohl den schwarzen See mit seinem morastigen Boden aus totem Laub an ihm rieche. Sie würde sich wundern, warum seine Haare feucht waren. Er war im Ehebrechen nicht gut, nicht so wie Leila, weil er sich nicht ganz und gar dem Augenblick hingeben, ihm nicht blind entgegenstürzen konnte. Der Segen seiner Mutter schützte ihn nicht vor Gastritis und einer ominösen Diagnose seines Arztes: «Etwas nagt an Ihnen.»
    Die Stichhaltigkeit des Satzes erschreckte Henry; sein Verlangen nach Leila war wie ein wildes Tier. Es fiel über ihn her, wenn er nicht darauf gefasst war, und nagte an ihm im Dunkel. «Die Arbeit», log er.
    «Können Sie’s nicht ein bisschen langsamer angehn lassen?»
    «Noch nicht. Ich muss die nächste Stufe erreichen.»
    Der Arzt seufzte und sagte – und von seinem zusammengepressten müden Mund war nicht abzulesen, wie viel er erriet oder wusste –: «Vorläufig, Henry, müssen Sie auf dieser Stufe leben. Geben Sie irgendetwas auf. Sie haben sich zu viel vorgenommen.» Dies Letzte kam mit einem Nachdruck, der Henry unheimlich war, wie der Segen seiner Mutter ausheiterem Himmel. Die Luft selbst,

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