Die Tränen meines Vaters
gewidmet, das die Flirts und Verlobungen des Jahres verzeichnete. Die Hauptnotiz auf einer Seite mit dem Titel «Witze» war:
Frischling (nach einer von Dr. Rutters Hygiene-Vorlesungen): «Schreckliche Sachen kann man sich beim Küssen einfangen.»
Zweiter Frischling: «Wie wahr! Du solltest den armen Fisch sehn, den meine Schwester sich eingefangen hat.»
«Aber», hielt Benjamin seiner Mutter entgegen, als sie in ihren Siebzigern war, «du und Daddy, ihr habt nicht gleich nach dem College geheiratet. Ihr habt wie viele Jahre nach eurem Abschluss gewartet?»
«Drei. Wir haben einander Zeit gelassen, um entwischenzu können, aber es ist uns nichts Besseres eingefallen. Wir hatten keine Phantasie, Benjy. Wir waren Feiglinge.»
Wenn Benjamin sich vorzustellen versuchte, was sie zueinander hinzog, warum sie das Bedürfnis hatten, sich zu einem Paar zusammenzutun, begann er damit, dass sie beide groß waren, sein Vater eins fünfundachtzig und seine Mutter nicht weniger als eins siebzig, was ungewöhnlich war für eine Frau ihrer Generation. Über die Jahre nahm sie zu, aber im Jahrbuch war sie schlank; jung sah sie aus wie er, dachte Benjamin, während er mit zunehmendem Alter mehr und mehr wie sie aussah – ein wenig formlos im Gesicht, mit einem listigen, koketten Zug um den Mund, als sei er bereit, sofort zurückzunehmen, was immer er gerade gesagt hatte. Von seiner Mutter hatte er die im geselligen Umgang angewandte Kunst des Neckens und Ausweichens gelernt.
Seine Eltern ragten hoch auf in seinen ersten Erinnerungen an sie – Riesen in ihrer Unterwäsche, mit ihren weißen Flanken und Haartuffs an manchen Stellen ins Bad schlurfend und wieder zurück. Sein kleines Zimmer war hinter dem ihren eingezwängt, auf der Rückseite des Hauses, aber er war oft in ihrem Bett, so schien es ihm, weil er krank war oder sich vor der Dunkelheit fürchtete. Es war ein Vierpfostenbett aus Ahorn, blaugrau gestrichen und mit einer silbernen Mondsichel und mehreren unbeholfenen Sternen schabloniert. Benjamin und seine Mutter hatten das gemeinsam gemacht; sie hatte die Schablonen angefertigt, und er hatte sie festgehalten, während sie die Farbe auftrug. Das Bett war anfangs zu hoch für Benjy gewesen, er konnte nicht allein hinaufklettern; aber sobald er sich hochziehen konnte, saß er oft da oben auf seinem Aussichtsposten, während seineMutter und sein Vater sich halb nackt um ihn her bewegten, auf eine scheue stumme Art, die er nicht an ihnen kannte, wenn sie angezogen waren.
Als er noch nicht so groß war, dass das Wasser in der Wanne überschwappte, badete er mit seiner Mutter zusammen, um Heißwasser zu sparen. Mehr als sechzig Jahre später konnte er sich noch immer an den Anblick seiner Beine erinnern, die in dem schmalen wässrigen Raum neben ihren Beinen untergetaucht waren, seine Füße zusammengequetscht zwischen ihrer Hüfte und der Porzellanwand der Wanne. Um ihm das Shampoo aus den Haaren zu spülen, hielt sie seinen Kopf unter den Wasserhahn, bis er meinte, er müsse ertrinken. Seine Eltern, ging ihm auf, als er alt genug war, um einiges von Sozialgeschichte zu verstehen, waren Hervorbringungen der progressiven Zwanziger, konditioniert, auf eine sozialistische Revolution zu warten, die eines Tages kommen musste, und sich ihrer Körper nicht zu schämen. Was natürlich war, glaubte seine Mutter, war gesund und gut, auch wenn man dagegenhalten könnte, dass Keime und Parasiten ebenso gewiss aus der Natur kamen wie, zum Beispiel, Löffel voll Lebertran. Der widerliche anhaltende Nachgeschmack, wenn die dicke durchsichtige Flüssigkeit in seiner Speiseröhre hinuntersickerte: das war Natur für den kleinen Benjamin – das und Heuschnupfen und die Katze, die sich beim Vogelbad Blaukehlchen krallte. Er fand die Federn im Gras verstreut. Er fühlte sich ganz und gar zum Unnatürlichen hingezogen: zum Radio, zum Kino, zu den Zeitungen, zum Luftschiff und dem Himmelsschreiberflugzeug, das hin und wieder hoch über ihrer kleinen Stadt erschien.
Als er dreizehn war, zogen sie in ein zehn Meilen entferntes Farmhaus; die kleineren Räumlichkeiten brachten ihreKörper in größere Nähe zueinander. Seine Großeltern bezogen eines der beiden Zimmer oben und Benjamins Eltern das andere; für ihn stellten sie ein Bett in einer Nische neben der Treppe auf, und sein Großvater zog ihn morgens, auf dem Weg nach unten, am großen Zeh, wenn er unter den Decken hervorschaute. Die Wände waren dünn, und Benjamin konnte seine
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