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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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und hielt dann außerhalb der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses. Er und Leonora folgten einer Gruppe zwitschernder Engländerinnen, die sich offenbar auskannten, zu einem roten Bus, der sich rasch füllte; eine große Gruppe anderer Mitreisender überquerte die Straße und marschierte auf einer diagonal laufenden kleineren Straße davon. Als er sie verschwinden sah, beneidete Brad sie um ihr Geheimnis – eine Abkürzung, ohne Busfahrgeld. Der Bus konnte wegen einiger aufgerissener Straßen nicht weiter und setzte sie an einer Stelle ab, die Brad auf der Karte nicht finden konnte; er hatte das Gefühl, sich ebenso verlaufen zu haben wie in Granada im Regen, und Leonora neben ihm verlor die Geduld. Sie brauchte eine Flasche Wasser und hatte Angst, beraubt zu werden in den engen gewundenen Gassen. «Erstaunlich», sagte er, «wie diese Spanier ihre Kathedralen verstecken.»
    «Aber dies ist die größte gotische Kathedrale in Spanien!» Sie heulte fast. «Du bist der einzige Mann auf der Welt, der sie ums Verrecken nicht finden kann!»
    Als sie dann doch dorthin gelangten und in den fünf gewaltigen Mittelschiffen umherstreiften, konnte er in sich keine Erinnerung finden, schon einmal hier gewesen zu sein. Sicher hatten er und seine Mutter, die jetzt so tot war wieKönigin Isabella, und seine jüngere Tochter, jetzt verheiratet und dreifache Mutter, gestaunt über das exquisite Chorgestühl, den hohen Altaraufsatz, über die in eine kostbar bestickte Robe gehüllte geschnitzte Madonna, die noch aus der alten westgotischen Kirche stammte, und das Staunenswürdigste von allem: das barocke Loch, ein Stück Himmel, umgeben von himmlischen Figuren, stilwidrig im achtzehnten Jahrhundert in die gotische Wölbung hinter dem Altar gebrochen. Es war, als ob sie blind gewesen seien. Sicher waren sie erschöpft von dem Abenteuer mit dem Reifen, und seine Mutter musste ihre Checkliste mit Sehenswürdigkeiten dabeigehabt haben, um ihrem belletristischen Werk Nahrung zu geben. Wo hatten sie geparkt? Es war schwer, sich seine übergewichtige, überhitzte Mutter vorzustellen, wie sie sich die Straßen und Treppen hinauf- und hinunterschleppte, Strecken, die er und Leonora pflichtbewusst zurücklegten vom alten Jüdischen Viertel im Westen der Stadt bis zum Museo de Santa Cruz im Osten. Als sie müde an einer Balustrade lehnten, sah er seine Brücke, golden leuchtend im Licht des Spätnachmittags.
    Der Zug zurück nach Madrid fuhr in einer Stunde, um sechs. «Ich wette», sagte Brad zu Leonora, «wenn wir über diese Brücke gingen und dann nach links, kämen wir zum Bahnhof.»
    «Wieso glaubst du das?»
    «Ich glaube, diese Karte zeigt es.»
    «Glaubst du. Warum sind dann keine Leute auf der Brücke? Sie führt nirgendwohin.»
    «Man würde keine Brücke stehen lassen, die nirgendwohin führt. Erinnerst du dich an all die Leute, die nicht den Bus nahmen, sondern die Straße überquerten und in diagonalerRichtung weitergingen? Sie müssen zu dieser Brücke gegangen sein. Hier ist sie, auf der Karte. Sie heißt Puente de Alcántara.»
    «Wie kommen wir dort hinunter?»
    Das war eine vernünftige Frage, darum dachte Brad, sie werde jetzt vernünftig. Sie standen in beträchtlicher Höhe über dem Fluss; mehrere Durchfahrtsstraßen mit emsigem Verkehr verliefen zwischen ihnen und der Brücke.
    «Ich weiß nicht», gestand er. «Vielleicht über den Parkplatz. Ich glaube, ich sehe da ein paar Stufen, die hinunterführen.»
    Leonora wollte nett zu ihm sein, aber in den langen Jahren ihres Single-Daseins war die Gewohnheit, für sich selbst zu sorgen, ihr zur zweiten Natur geworden. «Du
glaubst
», sagte sie. «Du
weißt
es aber nicht.»
    «Ich weiß, dass da die Brücke ist. Wir sind alle drei darübergegangen.»
    «Das ist eine Ewigkeit her. Du weißt nicht einmal das mit Sicherheit, ich hör’s an deiner Stimme. Sieh über den Fluss, es gibt keine Straße auf der anderen Seite. Brad, ich habe Neuigkeiten für dich. Ich nehme den Bus. Ich weiß, wo er abfährt. Wenn du über deine geliebte Brücke gehen willst, treffen wir uns am Bahnhof. Gib mir mein Rückfahrticket.»
    «Ach Scheiße, was soll’s», sagte er. «Wir gehn zurück und nehmen beide den stickigen teuren Bus. Aber es hätte ein lyrisches Erlebnis sein können.» Im Grunde seines Herzens war er froh, dass er nicht hinuntertrotten und den Eingang zur Brücke suchen musste und dass sie, indem sie sich ihm widersetzte, einigen Abstand zwischen sie beide gebracht hatte;

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