Die Tränen meines Vaters
Boston vor, mit einem größeren Public Garden und zentraler gelegenen Kunstmuseen. Ihr straffes dunkles Aussehen und ihre strenge Frisur verleiteten etliche Passanten dazu, sie auf Spanisch anzureden, weil sie sie für eine Einheimische hielten; das gefiel ihr, errötend protestierte sie:
«No, no, gracias, soy americana.»
Rascher als er lernte sie, sich zurechtzufinden. Im Prado fand sie für ihn einen kleinen Goya, ein merkwürdiges Bild von einem Hund, das er von seinem ersten Besuchin Erinnerung hatte und das in einer Art Souterrain zu sehen war. Im Erdgeschoss, unter Goyas Porträts des königlichen Hofs, hätte man vergeblich danach gesucht. Mädchenhaft stolz auf ihre Führungsqualitäten in spanischer Umgebung ging Leonora voran, führte ihn durch die Touristenmengen hinauf in die zweite Etage, wo die wilden Gemälde aus Goyas depressiver letzter Schaffensperiode hingen, abgeschieden, gleichsam weggesperrt wie eine wahnsinnige Person auf dem Dachboden. Brad hatte einen vollständigen Hund in Erinnerung, vielleicht dachte er an einen von Francis Bacon. Aber das Bild trug den Titel
Perro semihundido
–
Halb versunkener Hund
– und zeigte nur ein Hundeprofil wie von Thurber und viel gelben leeren Raum. Brad fragte sich, warum er diese Erinnerung zwei Jahrzehnte gehütet hatte.
«Ich konnte doch nicht zulassen, dass du deinen kleinen Hund nicht wiederfindest», sagte Leonora – ein bisschen besitzerisch, fand er. «Du hast immer davon gesprochen.»
«Tatsächlich?» Es kam ihm so vor, als sei er nie zuvor in Madrid gewesen. Er wusste nicht mehr, wo das Hotel war, in dem er mit seiner Mutter und seiner Tochter logiert hatte: eine breite gerade Straße, wo man ihm höflich wortlos einen Strafzettel für unerlaubtes Wenden gegeben hatte. Nur das Gelände des Palacio Real – beschnittene Zypressen, von einer Balustrade aus gesehen – schlug eine leise Wiedererkennungsglocke in ihm an; das schlecht zusammenpassende Trio hatte dort vor zwanzig Jahren den taumeligen ersten Nachmittag verbracht. Die Arme auf die Balustrade gestützt, hatte er sich in festem Ton gesagt:
Ich bin in Spanien.
Eine exotische Förmlichkeit und Schwermut war aus den Gartenparterres mit ihren zu eckigen Mustern getrimmten niedrigen Ligusterhecken und gestutzten tintengrünenZypressen aufgestiegen. Der Zutritt war nicht erlaubt, erinnerte Brad sich. Der König war noch jugendlich und wurde verehrt: Spanien klammerte sich an sein Bild wie an einen Schutzschild gegen eine Rückkehr des zivilen Chaos. Jetzt war der König ein muskulöser gutmütiger Mann in den Sechzigern, der Premierminister war Sozialist, der Euro hatte die Peseta als Währung des Königreichs ersetzt, und die Palastgärten waren für das Publikum geöffnet. Brad ging mit Leonora in die einst verbotenen Anlagen hinunter; sie wirkten harmlos, kühl und leer, waren nicht mehr als ein weiterer Teil touristischen Europas, nahmen sie so unpersönlich hin wie die Hotelangestellten ihre Pässe, aus denen hervorging, dass sie nicht verheiratet waren: gelassen und ohne ein Wimpernzucken konterreformatorischen Puritanismus gaben sie sie zurück. Spanien hatte sich der heidnischen mediterranen Welt angeschlossen.
Leonora war hier koketter geworden, als sie es je in Boston war. «Habe ich es nicht intelligent angestellt», beharrte sie, als sie den Prado verließen, «dass ich den kleinen Hund für dich gefunden habe?»
«Perro»
, sagte Brad und hatte Vergnügen an dem rollenden Doppel-«r». «Ja, das hast du intelligent angestellt, Liebes.»
Von Madrid machten sie einen Tagesausflug nach Toledo, mit dem Zug. Ihre Stimmung, kurz vor dem Ende der Ferien, war heiter. Sie erhob keinen zornigen Einspruch, als er auf dem Bahnhof einer Zigeunerin mit einem in ihren Armen schlafenden schmutzigen Kleinkind ein paar Münzen gab. Er war schon einmal in Toledo gewesen, aber mit dem Auto, mit seiner – nicht Frau – seiner
madre
und seiner
hija
. Sie hatten auf der Fahrt einen Plattfuß gehabt, und dass erherausfand, wie man den Ersatzreifen montiert, war einer seiner wenigen spanischen Triumphe gewesen. Der platte Reifen war alles, was ihm von dieser Exkursion in Erinnerung geblieben war, außer einer ockerfarbenen alten Brücke mit hölzernen, metallbeschlagenen Toren, die sie im Sonnenschein überquert hatten, und hinter ihnen Toledo, gedrängt auf einem steilen, dichtbebauten Hügel.
Auch heute schien die Sonne. Der Zug kletterte eine Stunde durch Weingärten und frischgrüne Felder
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