Die Tränen meines Vaters
eher loslassen.»
«Ich konnte nicht glauben, dass irgendjemand sie haben wollte. Es passierte so plötzlich, man kam gar nicht zum Denken. Danke übrigens, dass du mich vorm Hinfallen gerettet hast. Ich habe mir nicht einmal die Knie aufgeschlagen.»
«Jederzeit, Liebste. Es tut mir leid wegen deines Wunderschals.»
«Er weiß gar nicht, was er mir bedeutet hat. Er wirft ihn einfach weg.»
La policía
war schon im Hotel. Woher wussten sie, wo die Fairchilds abgestiegen waren? «Der Taxifahrer hat den Überfallgemeldet», erklärte der lächelnde junge Angestellte an der Rezeption. «Daraufhin hat die Polizei alle Hotels in dieser Gegend angerufen und nach einem Ehepaar gefragt, auf das die Beschreibung passte.» Wie viel Polizeistaat steckte noch in diesem Land?
Der Polizist selbst, ein phlegmatischer, freundlicher Mann von Mitte vierzig – farblos, als ob Berufserfahrung alle seine natürlichen Töne und die Fähigkeit, überrascht zu sein, aus ihm herausgewaschen hätte – sprach kein Englisch; er setzte nicht seine Würde aufs Spiel, indem er auch nur einen Satz riskierte. Er warf einen Blick auf Fairchilds blutverklumpte Augenbraue und gab ihm ein langes zweisprachiges Formular, das er ausfüllen sollte. Mit Hilfe des Hotelangestellten vermittelte der Polizist die Absicht, Fairchild mitzunehmen, obwohl das Opfer protestierte:
«Es nada. Nada!»
Mrs. Fairchild, übersetzte der Rezeptionsangestellte mit erfreutem Lächeln, sei eingeladen mitzukommen.
Auf dem Rücksitz des Polizeiautos vertraute sie ihrem Mann an: «Als du das Formular ausfülltest, hat der Angestellte mir von einer Frau erzählt, die zu Boden gerissen wurde und sich das Hüftgelenk gebrochen hat, und in einem anderen Fall hat ein Ehemann versucht zu helfen und wurde erstochen und umgebracht. Wir haben also Glück gehabt.»
«Na fein», sagte Fairchild; er fühlte sich allmählich erschöpft. Seine Augenbraue schmerzte. Die Belebung durch den Schock ließ nach. Er sah, dass sie aus der Touristenregion herausgebracht wurden ins wahre Sevilla mit gewöhnlichen Straßen und alltäglichen Institutionen, mit seinen Quartieren zum Arbeiten und Einkaufen, zum Leben und Sterben. Sie fuhren durch Straßen mit Restaurants, vorbei an Bankenund einem Warenhaus, und überall herrschte noch geschäftiges Treiben in der zunehmenden Dunkelheit, zu einer Stunde, da in einer amerikanischen Stadt alles dichtmachen würde. Der schweigsame Polizist hielt vor einem Gebäude, das ein Krankenhaus sein musste. Es hatte einen sechsgeschossigen neoklassizistischen Mittelbau und einen modernen, nach Franco angebauten Flügel. Innen war alles hell erleuchtet, aber mit einem milchigeren, weicheren Licht, als es in einem amerikanischen Hospital verwendet worden wäre. Dramen, mit denen sie im amerikanischen Fernsehen Krankenhäuser spannend machen, gab es hier nicht. Stattdessen herrschte Ruhe in den Korridoren. Die meisten Tresen in Sichtweite waren leer. Niemand schien Englisch zu sprechen. Und der Polizist bot auch niemandem in seiner eigenen Sprache eine ausführliche Erklärung von Fairchilds Fall an – seine abrupte Krisis, sein heroisches Überleben.
Zwei Frauen in Schwesterntracht, wahrscheinlich Nonnen, die eine in Grün, die andere in Weiß, befragten das Opfer. Fairchild zeigte auf seine Wunde und erklärte:
«Dos hombres jovenes – Vespa, wruum, wrrruuum! Mi esposa –»
, verlegen um Worte, zu beschreiben, wie Carol niedergerissen worden war, stellte er es pantomimisch dar: er packte sich an der eigenen Schulter, machte dann eine niederstürzende Bewegung mit dem Arm –
«la señora, buum! Y me con la.»
Die Frauen nickten mitfühlend, gingen weg und kamen nach einer Weile mit einem Mann durch den hallenden Korridor zurück. So feministisch er auch wurde, war Fairchild doch erleichtert zu sehen, dass jetzt ein Mann die Sache in die Hand nahm. Das Wort
hidalgo
kam ihm in den Sinn; der Mann war jemand. Er war klein und hellhaarig und vierschrötig – ein blonder Nachfahr der Westgoten, miteinem Zahnbürstenbärtchen und einer Miene liebenswürdiger Belustigung. Er war Arzt. Er untersuchte Fairchilds blutige Augenbraue und bedeutete ihm, sich auf ein hohe, mit einem Laken bedeckte Liege zu setzen. Fairchild mochte seine Bewegungen, entschieden, aber ohne Hast, mit einem iberischen Anflug von Förmlichkeit.
Der Patient verstand immer besser Spanisch; er verstand, dass der Arzt die Schwester um Novocain bat und dass die Schwester ziemlich atemlos
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