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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Hinterlassenschaft erschienen, und er hatte ihn vor der Auktion gerettet und in einem gemieteten Truck von Pennsylvania nach Massachusetts geschafft. Aber keines seiner Kinder hatte ihn gewollt oder Platz für ihn gehabt, und auch Carol, deren Sinn für Dekor, in Krankenhäusern herausgebildet, eine klare, überschaubare Einrichtung bevorzugte, fand nicht, dass es in ihrem Haus, einem stattlichen Neo-Kolonial-Bau mit mehr als genug Fenstern und Heizkörpern, einen Platz für das Möbel gab. So war es schließlich in die Scheune gelangt und wartete auf jemanden, der es ebenso schätzte wie Fairchild und es mit sich nähme.
    Fairchild liebte den Schrank, weil die subtil unregelmäßigen alten Scheiben ihm die zittrigen Geister seiner Familie ins Gedächtnis spiegelten: seine Großeltern, seine Eltern und Onkel Wilbur, einen Milchfarmer aus New Jersey, der einmal während eines Sommerbesuchs sein Taschenmesser herausgeholt und die Tür des Eckschranks aufgehebelthatte. Onkel Wilbur hatte auf eine Art gesprochen, wie Fairchild sie nie wieder gehört hatte: ein leises sanftes pfeifendes Keuchen, das wahrscheinlich im geduldigen Umgang mit Tieren entstanden war. Fairchilds Mutter hatte sich an jenem Sommertag (die Luft war geladen mit dem Versprechen eines Gewitters) beklagt, dass es ihr unmöglich sei, etwas aus dem Schrank zu holen – die große Suppenterrine aus Porzellan vielleicht oder die Dessertschälchen mit den gewellten Rändern, wie glänzende dicke Zierdeckchen. Die Tür klemmte, war aufgequollen von der Feuchtigkeit. Mit Geschick und Geduld und seinem Taschenmesser hatte der Cousin aus New Jersey sie geöffnet und den Tag gerettet – jenen fernen Tag –, sodass fröhliche Hochrufe von den zu Besuch weilenden Verwandten kamen, die erwartungsvoll um den Tisch saßen. Es war ein belangloses kleines Ereignis, vergrößert durch das Gefühl familiärer Zusammengehörigkeit. Fairchild war gerührt, dass im gleichmäßigen Gang der Tage seiner Kindheit eine so geringfügige Sache hervorstach und ihm im Gedächtnis geblieben war. Die Kerben von Onkel Wilburs Messer waren immer noch an der Rundleiste aus Kirschbaumholz zu sehen. In New Englands trockenerem Klima schwang die Tür mühelos auf.
    Als das wie ein Heiligtum verwahrte Porzellan versteigert war, zusammen mit fast allen anderen Familienbesitztümern, hatte Fairchild den Schrank sentimental mit den übriggebliebenen Schätzen seiner Mutter gefüllt – einer schweren Keramikvase mit lila-brauner Glasur, einer dünneren röhrenförmigen Vase mit einem matten Marmormuster wie dem vom Vorsatzblatt in einem bibliophilen Band, mehreren Körbchen, geflochten aus vielfarbigem Stroh, einer Sammlung möglicher Pfeilspitzen, die sie als junges Farmmädchen zusammengetragenhatte, der handbemalten Rasierschale seines Vaters, auf der dessen Name in Goldbuchstaben stand, Porzellanfigurinen (eine Elfe mit getüpfelten Flügeln, ein Babyrotkehlchen in seinem Nest), einigen Wüstenrosen aus Sandstein, erworben als Andenken an ihre einzige Reise in den Westen zusammen mit ihrem Mann, ein Jahr bevor sie zur Witwe wurde. In einer kleinen flachen Schachtel aus den Tagen, da Warenhäuser selbst kleine Geschenke in gediegenen Schachteln verpackten, hatte sie die Plaketten verwahrt, die man zur Belohnung für den Sonntagsschulbesuch bekam, und die Sportfestschleifen, die ihrem einzigen Kind vor langer Zeit verliehen worden waren.
    Fairchild hatte sogar ihre letzte Handtasche in den Schrank gelegt, eine rundliche schwarze mit einem Schnappverschluss an der oberen Kante. Das Leder war seit ihrem Tod stockfleckig geworden. In einer Innentasche, das wusste er, steckten noch immer ihr Führerschein, ihre Sozialversicherungskarte, ihre Medicare-Karte und eine vom Computer erstellte Erinnerung an einen Arzttermin in der Woche nach ihrem plötzlichen Tod, der all dies Zubehör ihrer Existenz überflüssig machte. Souvenirs eines Lebens, dessen letzter fürsorglicher Zeuge Fairchild war, diese Überbleibsel, die wegzuwerfen er nicht die Willenskraft hatte, deprimierten ihn, vertieften die Depression, aus der selbst eine so bescheidene Aufgabe wie einen blauen Knauf von einer ausrangierten Tür abzuschrauben wie ein fast nicht zu bewältigender Berg aufragte. Warum sich bemühen? Alles vergeht, versinkt, verfällt unter der Herrschaft der Zeit und der Entropie.
    Die Persenning zur einen Seite wegzuziehen war schwierig. Die kräftigen Arbeiter –
dos hombres jovenes
– hatten die beiden

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