Die Tränen meines Vaters
einem Schild, das Lastwagenfahrer anwies, in einen niedrigen Gang zu schalten, hinunter zum Bach, der sich um das dachlose Gemäuer der alten Einraumschule wand, die seine Mutter als kleines Mädchen besucht hatte; das bröckelige Stück Asphalt, eine frühere Straße, wo seine Mutter und er an Junitagen ein Schild und einen Küchenstuhl aufgestellt und Erdbeeren für vierzig Cent die Zweipfundschachtel an die wenigen Autofahrer verkauft hatten, die anhielten; und dann die scharfe Rechtskurve, die einen langsamer fahren ließ als das hinter einem drängelnde Auto absehen konnte, auf den steinigen unbefestigten Weg, jetzt asphaltiert, der dorthin führte, wo Kern eine Zeitlang zu Hause gewesen war.
Beharrlich fallende Regentropfen sprenkelten seine Windschutzscheibe. Er fuhr zwischen Doppelhaussiedlungen, die einst der Gengrich-Meiereibetrieb und die Obstplantage des alten Amos Schrack gewesen waren, und vom höchsten Punkt der Straße sah er auf das Land, das zur Farm seiner Familie gehört hatte. Die Wiese, Tiefland, einst entwässert von steingefassten Gräben, die sein Großvater und sein Urgroßvater gegraben hatten, wurde nicht mehr gemäht; sie war vom neuen Besitzer mit Reihen immergrüner Gehölze und Birken zum Verkauf an Landschaftsgärtner bepflanzt. An ihrem Rand, überwuchert von Giftsumach und den Ranken wilder Himbeeren, führte die Straße entlang, die seineMutter früher ganz allein ging, bis die Gengrich-Kinder sich zu ihr gesellten auf dem Weg zum Schulhaus mit nur einem Klassenzimmer. Neben der Wiese hatte ein hoher Tulpenbaum gestanden, der bis in Kerns mittlere Jahre überlebt hatte, ebenso wie seine Mutter. Sie hatte ihm oft erzählt, dass sie bei warmem Wetter auf ihrem einsamen Weg stehen blieb unter den großen, weichen vierlappigen Blättern, dankbar für den Schatten und für das Vogelzwitschern in den Zweigen – laut am Morgen, gedämpft am späten Nachmittag.
Sein lebhaftes Bild von ihr als kleines Mädchen, die Haare geflochten und von der Mutter mit so vielen Nadeln festgesteckt, dass ihr die Kopfhaut wehtat, wenn sie in ihrem karierten Kleid und dazu passenden Schleifen diese sandige Straße zwischen den Feldern entlangging, war ihre Schöpfung gewesen, für ihn hatte sie jene Tage von einem ländlichen Paradies, von zutraulichen Tieren und einer dunstigen Stille heraufbeschworen. Sie hatte ihn, ihr einziges Kind, anstecken wollen mit ihrem Glücklichsein von frühester Zeit an, sodass, wenn sie stürbe und er die Farm erbte, er hier leben würde. Als ihr Tod kam, hatte er das Erbe nur angenommen, um es so schnell wie möglich loszuwerden. Die zwölf Hektar auf der einen Seite der Straße, mit der Scheune und dem Haus und dem Hühnerhaus, verkaufte er einem Cousin zweiten Grades, und die verbleibenden zwanzig, Felder und Wald, verpachtete er an die benachbarten Farmer, die Reichardts, und bewahrte so die grünen Flächen vor Baulanderschließung, wie seine Mutter es gewollt hätte. Er hatte auch das Vogelkundebuch aus ihrer Kindheit geerbt, ein zerfleddertes längliches schmales Buch mit einem zerkrümelnden Wachstucheinband und mit Bleistiftnotizenvon sorgfältiger Jungmädchenhand über die Arten – Hüttensänger, Stärlinge, Stachelschwanzsegler –, die sie auf der Farm gesichtet hatte. Als er den schlappen kleinen Band in der Hand hielt, empfand er ihre Hingabe an Vögel als pathetisch. In einer ihrer Geschichten von sich selbst hatte sie sich mit einem immer noch nachklingenden Groll daran erinnert, wie wütend ihre Mutter sie ausgescholten hatte, weil die kleine Tochter in einen Korb mit frisch getrockneter Wäsche geklettert war, um wie ein Vogel in seinem Nest zu sein.
Der fern von seinen zwanzig Hektar lebende Kern hatte ein schlechtes Gewissen wegen seiner seltenen Besuche. Seine berufliche Laufbahn hatte ihn nach Westen geführt. Er hatte sich vom Unterrichten am Englisch-Institut des Macalester College in St. Paul zurückgezogen und war mit seiner Frau, die die Kälte im Mittleren Westen nicht ausstehen konnte, nach Südkalifornien übergesiedelt. Diesmal war er nach Osten gekommen, um an einer kostenfreien dreitägigen Konferenz von Erziehungswissenschaftlern in New York teilzunehmen, wo er ein Referat über die nicht zu unterschätzende zeitgenössische Relevanz von Edmund Spenser gehalten hatte. Er fuhr an seinem alten Haus vorbei und sah kaum hin. Der Cousin hatte es verkauft, und dann war es wieder verkauft worden, an jemanden aus Philadelphia, der es so
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