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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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umgemodelt hatte, dass es kaum wiederzuerkennen war. Das erste Mal, als Kern das Haus gesehen hatte, war er dreizehn, und die Kinder eines Pächters flitzten von der halbverfallenen Veranda herunter und versteckten sich. Wo einst Sandsteinplatten durch den Rasen, überwiegend Fingergras, geführt hatten, umschloss jetzt einerundgeschwungene Auffahrt eine um einen Wasserspeier aus Terracotta gruppierte Ansammlung von Gehölzen in verschiedenen Grünnuancen, wie von einer Baumschule zur Besichtigung ausgestellt. Die vielen Vogelhäuser seiner Mutter und die Windglocken auf der hinteren Veranda waren fort. Sie hatte die Ansicht vertreten, mit der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre phantasievollsten Theorien vorbrachte, dass dies immer das Haus einer Frau gewesen sei. Als Beweis führte sie die Tatsache an, dass das Register als ersten Besitzer 1816 eine Frau namens Mercy Landis verzeichne. Nichts war von ihr bekannt, nur ihr Name auf der alten Urkunde; sie existierte an der Schwelle, da Historie ins Mythische schattierte. Und nach der Darstellung seiner Mutter hatte
ihre
Mutter die Farm profitabel gemacht, indem sie mit dem Leiterwagen zum Markt in Alton fuhr, jeden Samstag, und während des ersten Weltkriegs Tabak, der damals knapp war, für Zigarrendeckblätter anbaute. Ihr Mann legte die Einnahmen an, verkaufte die Farm und zog nach Olinger, einen Vorort von Alton. Zwanzig Jahre später benutzte seine Tochter die im Zweiten Weltkrieg angesammelten Familienersparnisse, um die Farm zurückzukaufen, von einem Strumpfwirkereibesitzer aus Alton, der das Land an Pächter und Kühe vergeben hatte. Es war Hügelland, nicht so fruchtbar wie der Ackerboden im Tal, wo die Amischen ihre Bilderbuchfarmen hatten, und der Magnat gab es für viertausend Dollar her.
    Kern fühlte die Spuren seiner Vorfahren überall um sich – Generation auf Generation hatte innerhalb der Grenzen dieses Pennsylvania-County gearbeitet und gegessen, war hier gegangen und gefahren und hatte ein unsichtbares Netz aus ausgetretenen Pfaden über das Land gelegt. Nur er war entkommen.Nur er aus der Familie seiner Kindheit lebte noch, um zu bezeugen, wie die Region sich veränderte, wie sie immer mehr ihr Gesicht von einst verlor, wie ihre Wahrzeichen eines nach dem anderen untergingen in dem Zeitlupentumult von Verfall und Verdrängung, indes die jüngeren Generationen ihre eigenen Ansprüche an das Land geltend machten.
    Er fuhr weiter, eine Viertelmeile, und schwenkte in den Parkplatz des Obst- und Gemüsestands der Reichardts ein. Ihrer Farm, einer der wenigen, die in der Gegend überlebt hatten, ging es gut wegen der neuen Kunden, die es jetzt im Süden des County gab. Die Reichardts waren fromme Leute, aber nicht abergläubisch, wenn es darum ging, mit den Zeiten Schritt zu halten. Kerns jährlicher Pachtscheck war mit einem Computer gedruckt. Der simple Schuppen, den er in Erinnerung hatte, mit einer Markise und ein paar über Sägeböcke gelegten Brettern, auf denen Körbe mit Pfirsichen und Äpfeln, Zuckermais und grünen Bohnen standen, hatte sich gemausert: jetzt gab es Tiefkühltruhen, Registrierkassen, Supermarktkarren und eine ansehnliche Abteilung importierter Gourmet-Delikatessen. Der junge Tad Reichardt, der für gewöhnlich mit Kern bei dessen seltenen Besuchen verhandelte, war mit seiner Familie für eine Woche nach Disney World gefahren. «Er fährt jedes Jahr hin, runter nach Orlando», sagte ein Mädchen an der Registrierkasse. «Er sagt, es ist nie gleich – die Kinder werden älter und sehn jedes Mal was anderes. Seine kleinen Mädchen haben die Prinzessinnen hinter sich. Aber Sie leben ja ganz in der Nähe von Disneyland, soviel ich weiß.»
    «Meilenweit entfernt. Viele Meilen. Ich bin nie da gewesen.»
    «Oh. Ja also, Mr. Reichardt hat Ihre Postkarte bekommen, wo Sie schreiben, dass Sie vorbeikommen, und er hat gesagt, ich soll seinen Vater holen, wenn Sie da sind.» Obgleich ihre Haare von einer traditionellen Mennonitenhaube aus weißer Gaze bedeckt waren, zog sie ein Mobiltelephon aus der Schürzentasche und drückte geschickt, mit dem Daumen, die Ziffern, ein Trick, den alle jungen Leute zu beherrschen schienen.
    Kern protestierte: «Es ist doch nicht nötig, dass wir Enoch behelligen. Ich kann mich allein umsehn. Sieht alles sehr gut hier aus.»
    «Er ist da», verkündete sie in das winzige Telephon.
    Nach wenigen Minuten erschien ein Angehöriger aus Kerns eigener Generation, Enoch Reichardt, feucht vom Regen und breit

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