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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Franz war nach Südkalifornien gezogen, in die Kapitale der Kameraarbeit. Aber er hatte das Photographieren lange hinter sich und mit seiner neuen Frau einen Catering-Service aufgezogen. Dann ließ Susan in ihrer verschnörkelten großen Schrift ihn wissen, dass ihre Karten an Hedwig vom Postamt in Tempe zurückgeschickt worden seien, und wahrscheinlich sei es so, dass sie ohne Franz, der sich um sie gekümmert hatte, gestorben sei. Aber ein alter Photographenkollege von Franz erzählte Luke später, auf einer Hochzeit in Brattleboro, nicht Hedwig, sondern Franz sei gestorben, an einem Herzinfarkt. Er hatte zwei Armeen überlebt, nicht aber die ungesunde Kost in Amerika.
    Ende der Neunziger begann Arlene sich für Reisen ins Ausland starkzumachen, bevor sie ein zu altes und lahmes Ehepaar seien, das so etwas nicht mehr schaffte. Um die Jahrtausendwende buchten sie eine Schifffahrt auf der Elbe und fuhren anschließend drei Tage mit dem Bus durchs wiedervereinigte Berlin. Eine ihrer jungen Reiseführerinnen, schlank, mit scharfgeschnittenem Gesicht und strohfarbenen Haaren, erinnerte Ed an Hedwig mit ihrem vorsichtigen Halblächeln und der leicht derangierten Ernsthaftigkeit. Sie hieß Greta. Beim Stopp in Potsdam hielt sie der Gruppe fußwunder alternder Amerikaner einen zu langen und zu dogmatischen Vortrag und bestand darauf, dass Truman und Attlee 1945
Babys
gewesen seien, neu an der Macht und der Gnade des gerissenen Joe Stalin ausgeliefert, mit der Folge, dass ein großes Stück Deutschland an Polen gegangen sei. «Sie waren
Babys
», wiederholte sie. Ihr Englisch war nahezu makellos und so geläufig, dass es die Gruppe mehr und mehr zur anderen, weniger meinungsstarken Reiseführerin hinzog. Greta war, was Hedwig hätte sein können, wenn sieeinen Groll gehegt hätte, das Gefühl, dass ihr Unrecht geschehen sei, anstatt das Gegenteil herauszukehren; Greta war unter dem ostdeutschen Kommunismus aufgewachsen, lebte in der kapitalistischen Wirtschaft, die über sie gekommen war, von ihrem Verstand und war bereit zu kämpfen, ohne sich bei irgendjemandem zu entschuldigen.
    Obgleich Ed überall aufmerksam zuhörte, auf der Straße, in der Oper und in Restaurants, erkannte er so gut wie nie einen Ausdruck oder einen Satz wieder; es war, als hätte er nie Deutschunterricht gehabt. Eine Kellnerin in Wittenberg gratulierte ihm auf Englisch zu seiner Aussprache, als er ihr laut vorlas, was er sich auf der Speisekarte ausgesucht hatte, und das war’s. «Werry goot German!», sagte sie.
    «Na so was, Liebling!», kommentierte Arlene trocken neben ihm, pikiert über das unerwartete Kompliment. «Ich bin beeindruckt.»
    «Eigentlich», sagte er und dachte daran, mit welch lieber, trauriger Kundigkeit Andrea ihren kleinen, aber drahtigen, wissenden Körper dem seinen angepasst hatte, «war ich kein richtiger Schüler.»

Die Straße nach Hause
    In einem weichen, aber stetigen Regen Anfang November verließ David Kern in seinem gemieteten beigefarbenen Nissan die Pennsylvania-Turnpike an einer neuen Mautstelle und wurde in einen fremden, majestätischen Strudel von Straßenüberführungen und -unterführungen katapultiert. Einige beunruhigende Sekunden lang hatte er keine Ahnung, wo er war; das kleine Dorf Morgan’s Forge – ein Gasthof, zwei Kirchen, ein Lebensmittelladen –, das links von ihm hätte sein müssen, war hinter einer grellen Strecke nationaler Franchise-Unternehmen und Einzelhandels-Outlets verschwunden. Die südliche Hälfte des County, eine waldige Gegend von ländlicher Rückständigkeit damals, als bald nach dem zweiten Weltkrieg seine Familie auf Drängen seiner Mutter die Familienfarm zurückgekauft hatte, war jetzt ein Freizeitparadies für Leute aus Philadelphia, die sich die alten steinernen Farmhäuser schnappten und Wochenendrefugien daraus machten. Er hatte gehört, dass es sogar Leute gab, die täglich hin- und herpendelten – eine Stunde hin, eine zurück, aber anscheinend war es ihnen der Mühe wert. Kern, für seinen Teil, hatte vor fünfzig Jahren nicht schnell genug aus dieser Gegend fortkommen können.
    Er wusste nicht, wo er war. Dann sagte ihm ein verrostetes, von Kugeln durchsiebtes Straßenschild in Form eines Schlusssteins, dass er auf der Route 14 war, und er trat mit der Verve eines jungen Mannes aufs Gas. Er kannte diese Straße: den allmählich ansteigenden geraden Abschnitt, mit dem Morgan’s-Staudamm weit unten auf der rechten Seite; dann das steile Gefälle, angekündigt von

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