Die Tränen meines Vaters
Durcheinander wuselte Franz munter hin und her und schleppte Bier- und andere Getränkekisten, ein geschicktes, fröhlich schwitzendes Faktotum, während Hedwig paralysiert und betäubt schien von dem Ausmaß ihrer Gastfreundschaft.
Mehrere Schülerinnen hatten Horsd’œuvres mitgebracht – rohes Gemüse mit verschiedenen Dips, lauwarme Käsewindbeutel –, aber als die Stunden verstrichen, verflüchtigten sich diese Happen, ebenso wie das anfängliche Übermaß an Freundlichkeit und höflicher Konversation. Vor das große Erkerfenster war ein Tisch gestellt worden mit Papptellern, Servietten und Besteck, aber wo war das Essen? Frau Professor saß auf einem thronartigen Stuhl mit leiterförmiger Rückenlehne, während ihre Gäste mit immer weniger Energie zirkulierten, und Ed dachte, dass er hier eigentlich nichts zu suchen hatte, unter diesen Jungen und Möchtegern-Jungen, diesen Teilzeitstudenten und halbgaren Kulturarbeitern. Frühling war die lebhafteste Zeit fürs Immobiliengeschäft in Peterborough, und sein Rasen und der Garten hatten jetzt Pflege nötig. Andrea kam zu ihm mit ihrer Version des gleichen Gefühls. Sie hatte sich endlich loslösen können von einem eleganten schwarzen Kameraassistenten in zerrissenen Jeans und einem lila Dashiki, der ihr unentwegt irgendeinenRauch ins Gesicht blies. Sie war ganz untypisch quengelig. «Ich bin am Verhungern. Was ist denn los?», sagte sie.
«Frag Hedwig.»
«Das wäre unhöflich, oder? Wir sind Gäste. Wir müssen nehmen, was kommt.» Ed hörte die Anspielung heraus, dass auch er, während seines Großstadtaufenthalts, genommen hatte, was kam.
Er hielt sich ans unmittelbare Thema. «Aber es kommt nichts. Nicht so bald.»
«Sie rührt sich nicht», gab Andrea ihm in klagendem Ton recht.
Über Andreas Schulter hinweg sah Ed Frau Mueller noch immer auf ihrem Stuhl sitzen, lächelnd, obgleich niemand mit ihr redete, und ihm kam der Gedanke, dass sie stoned war. Wenn nicht aufgrund einer kontrollierten Substanz, dann aufgrund einer sich steigernden Dosis Deutschtum, eine Hitlerschlampe in einem fremden Land, wo der Konjunktiv dahinwelkte und alles durchrasst und durchmischt war. Amerika hatte sie zermürbt. Oder Hitler hatte sie auf eine Weise, die einen nur schwer wieder auf die Beine kommen ließ, beschädigt zurückgelassen. In einer Ecke des Raums redete Franz schwitzend am Telephon. Nach einiger Zeit, die einem wie eine weitere Stunde vorkam, erschien ein Latino von einem Lieferservice in der Tür und trug ein babygroßes Bündel, in Fleischerpapier gewickelt, im Arm. Hedwig raffte sich zu einer hilflosen Willkommensgeste auf, indem sie einen Arm hob und «Franz!» rief. Dem Gerücht nach, das in der erschlafften Party die Runde machte, war es ein Schweinebraten, den Franz jetzt in den Ofen schob. Andrea sagte zu Ed: «Das dauert bis Mitternacht. Ich ekle mich vor Fleisch. Ich will nach Hause.»
«Ich auch,
Liebchen .»
Ed hatte ein Löwenbräu zu viel getrunken.
«Wäre es sehr unhöflich, wenn wir gehen?»
«Ach was, das fällt gar nicht auf.»
«Müssen wir uns von den Muellers nicht verabschieden?»
«Nein. Das kränkt sie bloß. Sowieso ist die ganze Party ein Abschied.
Verstehen Sie?
»
Sie sah mit ihrem kindlichen Gesicht zu ihm auf, die hellen Augen weit geöffnet und die Unterlippe unter die obere gezogen; sie verstand.
«Ja»
, sagte sie. Er spürte, dass sie sich Mühe gab, nicht zu weinen, aber er hatte nicht die Energie, den Arm um sie zu legen. Die Crux mit Andrea war, dass sie keinen Widerstand leistete. Es gab nichts, gegen das man sich hätte stemmen können. Sie war eine mit dem Silberstift gezeichnete Silhouette gewesen.
Im Gang der Jahre sickerten Nachrichten über die beiden Deutschen zu ihm nach New Hampshire durch. Andrea schrieb ihm anfangs einige Male und versicherte ihm, dass seine Entscheidung zurückzukehren weise gewesen sei – «Dein liebes, deiner Frau ergebenes Herz schien nie in Boston zu sein.» Luke und Susan schickten jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Sie hatten beschlossen zusammenzuleben, sandten aber nie eine Heiratsannonce. Franz und Hedwig, schrieben sie, seien von New England fortgezogen in den Südwesten, wo die Wüste sie wie Regentropfen verschluckt hatte. Es war, als hätten sie es darauf angelegt, sich in der amerikanischen Landschaft, die am wenigsten dem feuchten, überfüllten, hoch technisierten Deutschland ähnelte, zu verlieren.
In den Achtzigern kam die Nachricht, dass sie geschiedenseien.
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