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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Parklücken gab es zur Genüge, es war ein Abend mitten in der Woche. Kern stieg aus; seine Augen tränten, seine Knie zitterten.
    Das Nieseln hörte auf. Er ließ seinen nassen Burberry im Auto. Ned Miller erwartete ihn im Foyer. «Wir fingen an, uns Sorgen zu machen», sagte Ned.
    «Ich hatte Mühe herzufinden», sagte David und schüttelte dem alten Freund inbrünstig die Hand. «Und als ich’s dann endlich gefunden hatte, kam ich beim Reinfahren fast um. Der Kerl, der meinetwegen bremsen musste, hat mich mächtig angehupt.»
    «Es ist schwierig, links abzubiegen. Du hättest von der anderen Seite kommen sollen.»
    «Ich weiß, ich weiß. Reib’s mir nicht noch unter die Nase. Nächstes Mal mach ich es besser. Hoffe ich.» Ned sagte nichts; beide Männer dachten, dass es ein nächstes Mal vielleicht nicht mehr gab.
    Ned war, wie Kern, ein guter Schüler gewesen, aber nicht so sprunghaft und so laut. Er redete nicht mehr, als er musste, und der gesprächige Kern, so erregbar, dass die Worte sich manchmal in einem Stottern verklemmten, hatte begriffen, dass Ned sein bester Freund nur dann sein konnte, wenn er einsah, dass Schweigen des anderen Jungen natürliche Art freundschaftlichen Umgangs war. Neds Kopf war voller unausgesprochener Gedanken; sie waren für ihn ein Reservoir an Kraft. Er war Rechtsanwalt geworden, ein professioneller Wahrer von Geheimnissen.
    Die drei anderen Gäste saßen am Tisch, ihre Gesichter festlich von glasumschirmten Kerzen beleuchtet. Neds Frau war Marjorie, eine straffe, silberhaarige Absolventin einer anderen Highschool, östlich von Alton. Die andere Person aus Kerns Klasse war Sandra Bachmann, unter diesem Namen hatte er sie gekannt, aber sie war seit langem mit einem von Neds Kanzleipartnern verheiratet, mit Jeff Lang. Ned hatte listig, wohlüberlegt die Langs mit einbezogen, denn Kern war, aus sicherer Entfernung, während der ganzen Schulzeit in Sandra verliebt gewesen. Man hatte nicht viel Phantasie aufbringen müssen, sie zu lieben – sie war auffallend lebhaft gewesen, sportlich, eine gute Sängerin und obendrein die Schönste der Klasse, mit rauchgrünen Augen und glänzenden braunen Haaren, die sie in der Grundschule zu Zöpfen geflochten trug und dann, auf der Highschool,als Pagenkopf mit Ponys. Er hatte von Ned gehört, dass sie von verschiedenen Leiden heimgesucht worden war, und fragte sich, ob der Gehbock aus Aluminium, der drüben bei den Fenstern stand, ihr gehörte. Als er dankbar den Platz einnahm, den sie für ihn frei gehalten hatten, neben Sandra, bemerkte er, dass ihr Gesicht leicht steif und verzerrt war, von einem Schlaganfall vielleicht. Doch weil seine Liebe zu ihr im Kindergarten erwacht war, lange bevor Sex sich einmischte, war sie unempfänglich für körperliche Veränderung.
    Vor lauter Glück, neben ihr zu sitzen, sprudelte er hervor: «Sandra, es war fürchterlich hierherzukommen, ich kannte mich nicht mehr aus, wusste nicht, wie man fahren muss. Nicht, dass ich das je gewusst hätte. Und meine Augen sind bei Dunkelheit nicht die besten. Alle Scheinwerfer hatten so eine regenbogenschillernde Faserigkeit. In meiner Panik fuhr ich einem entgegenkommenden Auto mitten in den Weg, und in diesem Sekundenbruchteil dachte ich: ‹Na, Dummkopf, du bist hier geboren, da kannst du genauso gut hier sterben.› War der Verkehr immer so schlimm?»
    Sie sah ihn an aus ihrem versteinerten, verzerrten Gesicht, und mit einer spasmodischen Bewegung hob sie die Hand zu seinen Lippen hinauf, als wolle sie sie berühren, sie beschwichtigen. «David», sagte sie behutsam. «Ich höre nicht gut. Sprich langsamer und so, dass ich deinen Mund sehe.» Ihr Haar war glatt zurückgekämmt; er sah, dass die Höhlung ihres zierlichen Ohrs mit einem fleischfarbenen Hörgerät gefüllt war. Aber ihre Stimme hatte noch immer ihr reiches Timbre, eine Altstimme, die für ihn die vertraute Melodie des regionalen Akzents hatte – die deutschen Konsonanten waren ihm von Geburt an in die Ohrengedrungen. Sandra hatte nie laut werden müssen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Abgesehen von ihrem Busen, der in der achten Klasse plötzlich etwas Vorspringendes bekam, waren ihre physischen Merkmale eher präzis als betont. Sie war wie eine Photographie, die man leicht verkleinert hatte, um eine besondere Schärfe zu erreichen. Ihre Nase hatte am Sattel einen kaum wahrnehmbaren Höcker, und ihr Mund hatte einen leichten, entzückenden Überbiss. Kerns Lippen kribbelten, wo Sandra sie beinah

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