Die Träume der Libussa (German Edition)
der
Umstehenden. Was ihn verstörte, war der Ausdruck in Radegunds Augen, denn er
konnte weder Hohn noch Todesangst in ihnen erkennen. Da war nur jene Müdigkeit,
die durch tiefe Verzweiflung entsteht. Ein längst vergessen geglaubtes Bild
tauchte in seiner Erinnerung auf. Dieses Mädchen, das von seiner Horde entführt
worden war und sich vom Karren in den Abgrund fallen ließ, hatte einen ähnlich
abgestorbenen Blick gehabt, bevor ihr Körper wie ein toter Vogel in die Tiefe
stürzte.
In diesem
Moment begriff er, dass er Radegund einen Gefallen tat, wenn er sie jetzt
tötete.
Als Lidomir
sich schützend vor seine Gefährtin stellte, ließ Mnata das Schwert bereits
sinken.
„Bitte, richtet
nicht über sie, bevor ihr mich angehört habt", sagte Libussas Sohn. „Ich
brachte diese Frau hierher, zu einem Volk, dessen Sitten und Gebräuche ihr
fremd sind. Deshalb trage ich auch die Verantwortung für ihr Tun. Bedenkt das,
bevor ihr beschließt, was mit ihr zu geschehen hat.“
„Sie ist eine
Verräterin", erklärte Premysl gleichmütig. „Daran trägst du keine Schuld,
denn sie handelte ohne dein Wissen. Ich wünsche nicht ihren Tod, doch es steht
ihr auch nicht zu, weiter bei uns zu leben.“
Lidomir
seufzte.
„Aber wohin
soll sie gehen, wenn wir sie jetzt davonjagen? Ich habe ihr geholfen,
christliche Missionare hierher bringen zu lassen, die dieses Unglück
verschuldet haben. Wenn sie aus Praha verbannt wird, dann muss ich mit ihr
gehen.“
Libussa
schüttelte den Kopf und legte ihre Hand auf Premysls Arm.
„Lass uns dies
später entscheiden, denn nun sind wir alle zu aufgebracht", sagte sie mit
müder Stimme. Ihre andere Hand drückte wieder auf ihren Bauch. Mnata wurde mit
einem Mal klar, dass sie an dieser Stelle an Schmerzen leiden musste, und dies
bereits seit längerer Zeit.
„Ich
verspreche, auf Radegund aufzupassen und übernehme die Verantwortung für ihr
weiteres Handeln", erklärte Lidomir, diesmal ohne auf Widerstand zu
stoßen.
Die Versammelten
zogen sich erschöpft zurück. Mnata sah plötzlich wieder Leben in Radegunds
Augen, die mit einem warmen Leuchten auf Lidomir ruhten. Offenbar liebte sie
ihren Gefährten trotz allem.
10
Radegund ließ sich auf der
Bettstatt in ihrer Kammer nieder und sah nachdenklich Lidomir zu, der sich an
der Feuerstelle zu schaffen machte. Die Bediensteten hatten bereits für
ausreichende Wärme gesorgt und sie wusste, dass er es nur tat, um sie nicht
ansehen zu müssen. Trotzdem ließ die Freude ihr Herz schnell schlagen. Er war
ihr zu Hilfe gekommen! Lidomir hatte sich gegen ihre Verbannung ausgesprochen,
obwohl es mehr als genug Gründe dafür gab. Er musste sie mehr lieben, als sie
je geglaubt hatte. Vielleicht würde jetzt alles gut werden.
Doch je länger
ihr Gefährte ihr den Rücken zukehrte und das Schweigen andauerte, desto
unsicherer wurde sie.
„Ich danke dir,
dass du für mich eingetreten bist“, sagte sie schließlich. Er ließ den
Schürhaken los und wandte sich ihr langsam zu. Die Trauer in seinem Gesicht war
wie ein frostiger Windhauch.
„Ich habe dich
nach christlichem Ritus geheiratet und wusste, was ich tat. Vereint in guten
wie in schlechten Tagen. Es steht mir nicht zu, dich zu verstoßen“, murmelte
er.
„Ja, so ist
es“, rief Radegund erfreut. „Wir bleiben immer zusammen. Lidomir, ganz gleich,
was jetzt geschieht, wir müssen uns um unsere Zukunft kümmern, denn bald schon
...“
„Hör auf!“,
schrie er plötzlich. Es lag mehr Schmerz als Zorn in seiner Stimme, doch
Radegund erschrak trotzdem. Der sanfte, nachdenkliche Gelehrte war ihr
gegenüber noch niemals laut geworden.
„Bitte, jetzt
erzähle mir, wie es war. Was hast du mit Gundolf geplant?“, fuhr er bemüht
ruhig fort. „Wie konntest du einen Anschlag auf meine Mutter in Erwägung
ziehen? Hast du wirklich gedacht, ich würde einwilligen, danach ihren Platz
einzunehmen?“
Seine Worte
fielen wie Hammerschläge auf sie nieder. Radegund verschränkte abwehrend die
Arme vor der Brust.
„Davon wusste
ich nichts“, murmelte sie. „Er sagte niemals, dass jemand sterben würde. Auch
das mit dieser Heilerin, deiner Tante Kazi, ich weiß nicht, warum es geschah,
und ich wollte es nicht, obwohl sie ... sie war eine heidnische Zauberin, genau
wie ihr Sohn sagte. Weißt du, einmal, da riet sie mir, sie riet mir ...“
Nun begann
Radegund zu reden. Sie erzählte von dem Fest des Frühlings und dem Erlebnis mit
Slavonik in den Büschen, das sie später Gundolf
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