Die Träume der Libussa (German Edition)
einen alten
Mann verwandelt zu haben, während Libussa in ihrer Blässe fast schon einer
Toten glich. Ihm fiel plötzlich auf, dass sie abgemagert war in den letzten
Wochen. Beide schwiegen. Thetka schluchzte ohne Unterlass. Eric tätschelte ihre
Hand, und auch Vlasta war bemüht, der Mutter Trost zuzusprechen, doch sich
gefühlvoll zu zeigen war nicht ihre starke Seite. Tschastawa war der Beratung
fern geblieben, denn sie fühlte sich zu schwach.
Scharka und ihr
Bruder waren ebenfalls anwesend, was Mnata angemessen schien, doch störte ihn
die Gegenwart der Fränkin. Lidomir hatte darauf bestanden, dass seine Gefährtin
bei dem Treffen dabei sein sollte, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte.
Mnata musterte
das ebenmäßig und scharf geschnittene Gesicht Radegunds unter dem kunstvoll
frisierten schwarzen Haar. Was genau verbarg sich hinter diesem stets
makellosen Äußeren?
„Ich habe
nachgedacht über die Dinge, die Vojen erzählte", unterbrach Lidomir
plötzlich das bedrückte Schweigen. „Ich weiß, hier hält man nicht viel von den
Lehren der Schriftgelehrten, doch sie beschränkten sich nicht darauf, Frauen zu
beschimpfen. Einige von ihnen äußerten sich etwas abfällig über das weibliche
Geschlecht, das gebe ich zu, doch die meisten ihrer Schriften befassen sich mit
ganz anderen Dingen und enthalten großartige Gedanken. Seneca zum Beispiel, der
meint dass …“
„Was dieser
Mann meint, ist uns allen jetzt ausgesprochen gleichgültig", fuhr Premysl
ihm scharf ins Wort. Lidomir zuckte unter der Rüge zusammen, doch er ließ sich
nicht zum Schweigen bringen.
„Ich wollte nur
sagen, dass Gundolf sich bei seinem Unterricht auf wenige Auszüge aus den
Schriften beschränkt haben muss, in denen es ausschließlich um die
Minderwertigkeit der Frau ging.“
Vlasta runzelte
die Stirn, als verstünde sie nicht, worauf Lidomir hinauswollte. Aber Libussa
griff den Gedanken auf.
„Vojen hat
stets unter Kazis Behandlung gelitten", sagte sie. "Das muss Gundolf
erkannt haben. Er sah die Schwäche des jungen Mannes und beeinflusste ihn. Aber
wozu dieser Auftritt im großen Saal? Was sollte das bezwecken? Und warum ...
warum Kazi ... Was hat Gundolf von ihrem Tod?“
Sie verstummte
und presste ihre Handfläche gegen die linke Seite ihres Unterleibs. In letzter
Zeit tat sie das oft.
„Es ging darum
zu zeigen, was der Rest der Welt von der Herrschaft einer Frau hält. Der Pfeil
galt ursprünglich vielleicht nicht einmal Kazi", meinte Premysl nun. „Die
Dinge entwickelten sich anders, als von Gundolf geplant. Er wollte dich entmachten,
verstehst du nicht? Deshalb Slavoniks Rede und Neklans Bemerkungen. Es lief
alles auf ein Ziel hinaus, doch wir verhielten uns nicht so, wie Gundolf
erwartet hatte. Er konnte die Leute nicht gegen deine Herrschaft aufhetzen.
Vielleicht galt der Pfeil gar nicht Kazi, sondern … sondern …“
Libussas
fassungsloser Blick machte es unnötig, den Satz zu Ende zu führen. Sie sackte
zusammen und ihr Gesicht verzog sich, als leide sie unter starken Schmerzen.
Premysl legte ihr seine Hand auf den Arm.
„Es kam anders,
und das ist trotz allem gut so. Ohne dich wäre dein Volk verloren.“
Libussa seufzte
und holte Luft, als wollte sie etwas sagen, entschied sich aber im letzten
Augenblick dagegen.
„Wenn Gundolf
glaubte, durch die albernen Reden Vojens unsere Traditionen ändern zu können,
muss er ein völliger Dummkopf sein. Wer hört denn schon auf Vojen?“, kam es nun
von Vlasta.
„Es war nicht
nur Vojen. Slavonik und Neklan, sie haben mich von Anfang an gehasst. Ich
dachte, das wäre vorbei, aber es hört einfach nicht auf", flüsterte
Libussa müde.
„Jeder
Herrscher hat Feinde", erklärte ihr Gefährte. „Aber wenige haben so viele
Freunde wie du. Vergiss das nicht. Was mich aber wundert, ist, dass Gundolf den
Protest gegen Mnata und dich mit Slavonik und Neklan abgesprochen haben muss.
Er kannte die beiden kaum, sah sie nur kurz bei der Bestattung von Krok. Wie
kann er so schnell herausgefunden haben, welche einflussreichen Männer unseres
Volkes deine Feinde sind? Mit den einfachen Leuten in der Festung habe ich ihn
nie reden sehen, obwohl ich darauf achtete. Er muss hier einen Informanten
haben.“
„Vojen“,
erklärte Mnata. Bei dem Gedanken an die arglistigen Schlangenaugen des Jungen
zog sich sein Magen vor Hass zusammen. Ein bitterer Geschmack lag auf seiner
Zunge. Warum nur hatte er sich von Libussa daran hindern lassen, dem Feigling
eine Tracht
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