Die Träume der Libussa (German Edition)
Krankheit sie zu plagen begann. Jetzt schien es ein kostbares Geschenk der
Götter.
„Sieh nach!“,
flüsterte plötzlich wieder die Stimme in ihrem Kopf. „Schau ins Wasser und sieh
nach, was sein wird, wenn du diese Welt verlassen hast!“
Ihr Herzschlag
beschleunigte sich. Sie legte die Hände auf ihre Ohren, doch konnte sie die
Stimme nicht zum Schweigen bringen.
„Du sollst die
Zukunft sehen. Das ist unser letztes Geschenk an dich in dieser Welt.“
Zaghaft wandte
sie sich dem sprudelnden, klaren Wasser zu. Wieder glaubte sie, zu fallen, doch
diesmal war es kein Sturz in finstere Tiefen. Sanft schwebte sie durch laue
Frühlingsluft. Unter ihr wurde der Berg immer kleiner. Auf seinem Gipfel war
eine Festung gewachsen, aus Stein, wie es schien. Ein Stück daneben stand ein
kleineres Gebäude, an dessen Spitze Libussa das Kreuz der Christen erkannte.
Die Franken!,
schoss es ihr durch den Kopf. Sie werden unser Land erobern und ihre steinernen
Gotteshäuser bauen.
Das Fliegen war
so befreiend, dass der Schrecken allmählich nachließ. Siedlungen zogen unter
ihr vorbei, Bauernhütten und weitere Bauten aus Stein. Sie erkannte die breiten
Fluten der Vltava und sah Chrasten in Trümmern liegen. Am anderen Ufer brannte
ein Feuer. Libussas Magen verkrampfte sich, denn die Flammen tobten oberhalb
jener Biegung des Flusses, wo sie Praha hatte errichten lassen. Erschrocken
näherte sie sich ihrer Festung und sah, wie die Statuen der Götter zerhackt und
angezündet wurden. Doch die Männer, die dies taten, trugen die bunt bestickten
Hemden ihres Volkes.
Entsetzt
schloss sie die Augen, doch sie öffneten sich gegen ihren Willen erneut.
Ein Gebäude aus
Stein stand nun an der Stelle des Schreins. Dahinter waren weitere Bauten im
Gange. Sie flog näher an den Schauplatz heran und sah einen Mann in dunkelroter
Tunika vor dem Steinbau. Kunstvoll verarbeitete Ketten aus Silber und Glas
hingen um seinen Hals. Er war in Begleitung einer ebenfalls geschmückten Frau
und einiger anderer Männer in den Kutten christlicher Mönche. Einer von diesen,
dessen Gewand edler schien als das der übrigen, hielt ein Kreuz in der Hand,
wie Libussa es einst in Verden gesehen hatte. Obwohl sie nur wenige Worte hören
konnte, erkannte sie die vertraute Sprache ihres Volkes.
Erleichtert
begriff sie, dass sie sich geirrt hatte, die Franken würden Praha doch nicht
einnehmen. Nun sah sie sich die neuen Gebäude genauer an. Der kleine Bau aus
hellem Stein schien seltsam vertraut. Damals, als sie am Ufer der Vltava
versuchte, sich ihre zukünftige Siedlung vorzustellen, war er ihr erschienen
und sie hatte beschlossen, an jener Stelle den Schrein zu errichten. Nur das
Kreuz der Christen musste ihr entgangen sein.
„Die Kirche der
Heiligen Jungfrau kann bald geweiht werden, mein Fürst“, hörte sie den ersten
der Mönche zu dem prächtig gekleideten Mann sagen. „Du wirst deinem Volk auf
ewig in Erinnerung bleiben. Fürst Borivoj brachte die Botschaft des Heils zu
diesem Volk der Heiden.“ Der Fürst nickte gleichmütig, doch die Frau an seiner
Seite strahlte vor Glück.
Nein, Borivoj.
Andere sind dir voraus gegangen, doch vielleicht kennst du ihre Namen nicht
einmal, dachte Libussa. Trotzdem empfand sie keinen Zorn, nur mildes Staunen.
Sie flog näher an die Versammelten heran. Die Frau an der Seite des Fürsten
bewegte verzückt ihre Lippen. Christen, so erkannte Libussa, sahen beim Beten
nicht wirklich anders aus als die Anhänger des alten Glaubens. Borivoj legte
seine Hand auf die Schulter seiner Gefährtin.
„Du hast mir
den rechten Weg gezeigt, Ludmilla. Ich glaube, es war klug, auf dich zu hören“,
murmelte er sanft und seine Gefährtin lächelte. In ihren Augen erkannte Libussa
den Triumph eines Menschen, dessen Träume gerade in Erfüllung gingen.
Sie musterte
die Gesichtszüge dieser Frau eingehend, konnte jedoch keine Ähnlichkeit mit der
vor vielen Jahren verschwundenen Schwester Neklans erkennen. Es musste Zufall
sein, dass sie denselben Namen trug. Doch Borivoj hatte schwarzes glattes Haar
und eine elegant geschwungene Nase, ganz wie Lidomirs Fränkin.
Libussa dachte,
dass es Radegund vielleicht vorbestimmt gewesen war, zu den Behaimen zu kommen.
An der Stelle des Schreins stand nun zwar eine christliche Kirche, doch
wenigstens war sie der Mutter des Gottessohnes geweiht. Und eine Frau würde
ihren Bau veranlassen. Scheinbar waren Frauen in der Welt der Christen doch
nicht ganz ohne Einfluss.
Borivojs
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