Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
sagen sollten. Seine Rede war offenbar zu Ende, aber sie wussten, dass nichts, was sie sagten, ihm seinen Schmerz nehmen würde.
»Meine Mutter wurde nach Süden gerufen«, erzählte Arden ihnen plötzlich. »Und seht, was ihr zugestoßen ist. Aber ihr wollt jetzt auch dorthin! Ja, sicher«, fügte er hinzu, als er ihre Gesichter sah, »glaubt ihr, ich wüsste nicht, was in jener Nacht geschehen ist? Ich habe auch etwas gehört, aber ich bin nicht so dumm, darauf zu achten.«
Als Arden weitersprach, war all sein Ärger aus seiner Stimme gewichen.
»Ich will nicht, dass ihr geht. Aber ich habe Angst, so zu werden wie er«, bekannte er.
»Du könntest niemals so werden«, meinte Gemma entschieden und war überrascht, endlich ihre Stimme wiedergefunden zu haben.
»Wirklich nicht?« In den Augen, die ihren Blick erwiderten, stand ein Hauch von Wahnsinn, und einen Augenblick lang war sich Gemma nicht mehr sicher. Dann fasste sie sich wieder und sah ihm in die Augen.
»Niemals«, wiederholte sie.
Er sah sie noch eine Weile an, dann ließ er die Schultern hängen.
»So, jetzt kennt ihr mein dunkelstes Geheimnis.« Er versuchte tapfer zu sein und schnodderig zu klingen, was ihm aber kläglich misslang. »Genau wie Kris all die Jahre. Ich bin überrascht, dass er dir nichts davon erzählt hat.«
»Kris konnte sehen, was in dir vorgeht«, sagte Mallory. »Er hat es uns gezeigt, und wir waren nicht enttäuscht.«
»Das glaube ich erst, wenn wir den Fluss zurückgeholt haben«, meinte er versonnen und blickte zu Boden.
»Wie alt warst du, als das passiert ist?« fragte Gemma leise.
»Vierzehn.« Er hob den Kopf und lächelte bitter. »In den Bergen werden wir schnell erwachsen.«
»Lass es, Arden«, sagte Mallory. »Du kannst nichts ändern, und es ist wirklich lange her.«
»Wirklich lange her«, wiederholte er, jedes einzelne Wort betonend. »Ich brauche etwas zu trinken«, fügte er kurz darauf hinzu.
»Ich auch«, meinten Gemma und Mallory gleichzeitig.
Langsam kehrte etwas Leben in Ardens Augen zurück, und Gemma sah, wie er seine Kräfte sammelte und sich aus seiner melancholischen Stimmung zu reißen versuchte. Du bist tapferer, als du glaubst, dachte sie. Dass du solange damit gelebt hast.
»Dein Wunsch sei mir Befehl«, antwortete er, stand auf und holte die Metflasche. Er füllte ihre Becher nach und fand auch einen für sich. Er schwankte zwar ein wenig, trotzdem blieb seine Hand beim Einschenken ruhig.
»Das machst du nicht zum erstenmal«, grinste Gemma.
»Stimmt«, erwiderte er. »Ich habe meine eigentliche Berufung verfehlt. Ich hätte Berufstrinker werden sollen. Ich verfüge über die perfekten Voraussetzungen.« Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht vor Wut. »Gott verdammt noch mal!« brüllte er. »Warum musste ich davon anfangen?« Er schleuderte die Flasche gegen die Tür der Hütte. Sie zerschellte nicht, sondern sprang über den Boden, wo sie liegenblieb, und die letzten Spritzer auf die hölzernen Dielen tropften. Arden starrte sie fassungslos an, während Gemma und Mallory den Atem anhielten.
»Bei Gott«, sagte er endlich. »Klappt den überhaupt nichts mehr so, wie ich will? Er starrte noch immer die Flasche an, als könnte er sie kraft seines Willens zersplittern.
»Das war unser letzter Met«, meinte Mallory zaghaft. »Wir Mädchen müssen schließlich bei Kräften bleiben.«
Sie warteten und wollten sehen, wie Arden auf diesen harmlosen Scherz reagierte.
»Also schön!« verkündete er dramatisch. »Ich werde gehen und noch eine Flasche holen. Nein! Ein ganzes Fass. Wir werden es brauchen, bis die Nacht vorüber ist.«
Damit zog er leicht torkelnd los und trat im Vorübergehen gegen die leere Flasche. Er schloss die Tür hinter sich mit übertriebener Vorsicht.
Gemma und Mallory sahen sich an, dann stießen sie einen Seufzer der Erleichterung aus.
38. KAPITEL
Sie blieben noch drei weitere Tage in Keld. In dieser Zeit hatten sich Gemma und Mallory erholt und Arden die letzten Spuren seines gewaltigen Katers verwunden. Trotz seines selbstverschuldeten Leidens hatte er mehrere Erkundungsausflüge unternommen und war mittlerweile erpicht darauf, abzureisen, denn er glaubte zu wissen, wo sie den Flusslauf erneut aufnehmen konnten.
An einem kalten, klaren Morgen nahmen sie also Abschied vom Dorf und ritten, während die letzten Abschiedsgrüße verhallten, nach Südosten. Sie hatten vor, die Geröllhalden des Südhangs von Blencathra zu umgehen. Den größten Teil des
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