Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
gesetzt.
»Meine Herren, eine Meile vor der Küste bei meinem Dorf gibt es eine Insel. Viele Jahre lang haben wir die Wasserwege und Strömungen ringsum kartographiert und die Insulaner immer fair behandelt. Und jetzt danken sie uns das mit Verrat.«
»Wie das?« fragte der Richter, der am nächsten saß.
»Es liegt ein Unheil in der Luft. Die Götter mögen meine Zeugen sein - es ist Zauberei!« Bei dieser Bemerkung stieg der Geräuschpegel an, und Gemma verfolgte die Geschichte mit neuem Interesse. »Was sonst kann es sein? An manchen Tagen verschwindet die Insel, so dass man einfach im offenen Meer durch sie hindurchsegeln kann, und am nächsten Tag ist sie wieder da, genau wie zuvor.«
»Welche Beweise haben Sie dafür?«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und alle anderen aus meinem Dorf ebenso. Boote und Segeln sind unser Leben. Wir irren uns nicht. Und das ist noch nicht alles. Manchmal verschwindet die Insel nicht ganz. Manchmal entstehen lange Sandbänke aus grobem Kies, die meilenweit und messerscharf aus dem Meer hervorragen und unsere Boote daran hindern, dort zu segeln, wo sie wollen. Einige haben bereits Schiffbruch erlitten, manche sind weit draußen auf See, abgeschnitten von Heimat und Hafen, untergegangen. Einige unserer Männer weigern sich, noch rauszufahren. Und die Fische haben uns verlassen.«
»Kann man ihnen wohl kaum vorwerfen!« brüllte ein Zwischenrufer.
»Wir sind gute Menschen«, fuhr der Fischer fort. »Wir haben immer unsere Steuern bezahlt, obwohl wir arm sind. Unser Fang hat so manchen Tisch in dieser Stadt gefüllt. Wir wollen nichts weiter als Gerechtigkeit!«
»Wie lautet nun Ihre Bitte?« fragte ein anderer Richter.
»Die Gilde soll uns Truppen schicken und die Bedrohung durch diese Insel zerstören, damit unser Leben und unsere Welt wieder zur Normalität zurückkehren kann«, antwortete der Bittsteller. »Wir haben versucht, mit den Inselbewohnern zu reden, aber sie sperren sich gegen jede Einsicht und lachen bloß über unser Elend. Sie sind alle der Zauberei verfallen und müssen vernichtet werden, bevor sie uns alle vernichten.«
Gegen Ende seines Vortrages erntete der Fischer Rufe und Pfiffe, Fußstampfen und Applaus. Die Menge war einverstanden. Heute bekamen sie wirklich was für ihr Geld geboten. Gemma fragte sich, ob sie wohl die einzige war, die bei seinen Worten eine Kälte im Magen verspürte. Für sie ist das bloß ein Spiel, dachte sie. Sehen sie denn nicht die Tragödie hinter dieser Farce? Sie wusste nicht recht, ob sie das Gerede des Mannes glauben sollte, aber seine Notlage war offensichtlich echt.
Die Aufmerksamkeit der Menge richtete sich jetzt auf den zweiten Wettstreiter, der Bäckerkleidung trug und bereits jetzt in der Sonne schwitzte. Seine Augen hatten etwas Wildes.
Er begann durchaus gekonnt. Er stellte sich dem Ritual entsprechend vor und erklärte, woher er kam. Sein Geschäft, so erzählte er, sei durch den Angriff der Himmelsraben zerstört worden, und jetzt sei er völlig verarmt. Als er fortfuhr, wurde er immer unsicherer und fing an, sich zu verhaspeln. Die Menge wurde unruhig, fing an, ihn zu verhöhnen, bis der Bäcker immer verzweifelter wurde und den Fehler beging, seine eigenen Theorien über den Angriff zum Besten zu geben.
»Die Himmelsraben und die Grauen Vandalen sind ein und derselbe Feind!« ereiferte er sich und erntete dafür spöttisches Geheul. Jeder wusste, dass die Himmelsraben die Grauen Vandalen häufig verscheuchten.
»Das ist die Wahrheit!« kreischte er. »Zuerst wurden nur die Ausländer angegriffen ...« Noch mehr Gelächter entlud sich über ihm. »Das war ja in Ordnung ...«
Na, danke, dachte Gemma, die allmählich einige Sympathie für die Peiniger des Bäckers empfand.
»... aber jetzt sind wir alle in Gefahr, wie mein Schicksal beweist.«
»Wie lautet nun Ihr Antrag?« fragte der Richter förmlich. »Wir müssen einen gewaltigen Schutz bauen«, erwiderte der Bäcker hastig. »Eine gewaltige Kuppel, die die gesamte Stadt überspannt, damit uns die Himmelsraben nicht sehen und unsere Häuser nicht zerstören können. Sehen Sie, hier ... ich habe die Pläne schon entworfen ...« Er kramte in seinen Taschen, ohne von dem donnernden Gelächter und dem offensichtlichen Spott etwas mitzubekommen, den seine Vorschläge hervorriefen.
Der ihm am nächsten sitzende Richter tat die Pläne mit einer Handbewegung ab. »Das muss das Gildengericht untersuchen«, meinte er, »vorausgesetzt, Sie kommen
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