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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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jeder auf einem Sessel, Platz nehmen und bat mich, Tee einzuschenken. Er tat recht daran. Zu viel Gefühl ist tödlich. Dieses sich Besinnen auf eine ganz banale Tätigkeit erlaubte mir, meine Fassung zurückzugewinnen und erneut meinen Verstand einzuschalten.
    »Guillaume, Sie haben mich gestern wiedererkannt, ich Sie aber nicht.«
    Er verzog fragend das Gesicht und runzelte die Stirn.
    »Wie bitte? Ich soll Sie wiedererkannt haben?«
    »Ja, wir haben doch als Kinder zusammen gespielt, oder?«
    »Tatsächlich?«
    »Sie erinnern sich nicht?«
    »Nein, kein bisschen.«
    »Warum haben Sie mir dann vorgehalten, Sie nicht zu erkennen?«
    Das schien ihn ungemein zu erheitern.
    »Wirklich, Sie sind einfach umwerfend.«
    »Wie? Was habe ich gesagt?«
    »Sie sind die einzige Frau, die fähig ist, sich in einen Mann zu verlieben, der aus dem Wasser kommt. Wenn ich mich darüber amüsiere, dass Sie mich nicht wiedererkannt haben, dann weil ich bekannt bin.«
    »Mir?«
    »Nein. Vielen Leuten. Ich stehe in der Zeitung, es gibt Fotos von mir.«
    »Weshalb? Wie kommt das?«
    »Wie das kommt?«
    »Schreiben Sie, treiben Sie irgendeinen Sport, gewinnen Sie Wettkämpfe? Autorennen? Tennisturniere? Segelregatten? Sicher verdanken Sie Ihre Berühmtheit Ihrem Talent. Was machen Sie?«
    »Ich mache nichts. Ich bin.«
    »Sie sind?«
    »Ich bin.«
    »Sie sind was?«
    »Prinz.«
    Auf diese Antwort war ich so wenig gefasst, dass es mir für eine Weile die Sprache verschlug.
    Schließlich wurde er unruhig.
    »Schockiert Sie das?«
    »Mich?«
    »Sie haben das Recht, die Monarchie für skurril und überholt zu halten.«
    »O nein, nein, nein, das ist es nicht. Es ist nur … ich komme mir vor wie ein kleines Mädchen … Sie wissen schon, das kleine Mädchen, das in den Prinzen vernarrt ist. Grotesk! Ich komme mir lächerlich vor. Wie lachhaft, nicht zu wissen, wer Sie sind. Wie lächerlich, etwas für Sie zu empfinden. Einfach lächerlich!«
    »Sie sind nicht lächerlich!«
    »Wenn ich wenigstens Schäferin wäre«, scherzte ich, »das ergäbe dann einen Sinn! Der Prinz und die Schäferin, nicht wahr? Nur habe ich leider keine Schafe, ich habe niemals Schafe gehütet, ja, ich fürchte, ich kann Schafe nicht ausstehen, sie stinken einfach zu sehr. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
    Immerhin schien ich ihn zu belustigen. Er griff nach meinen Händen, um mich in meiner Hektik zu beruhigen.
    »Bleiben Sie, wie Sie sind. Wenn Sie wüssten, wie sie mich entzückt, Ihre Unkenntnis … Normalerweise fallen junge Mädchen vor mir in Ohnmacht.«
    »Nehmen Sie sich in Acht, sonst falle auch ich noch vor Ihnen in Ohnmacht! Mir ist übrigens ganz danach.«
    Wir begannen uns wieder angeregt zu unterhalten. Er wollte alles über mich wissen und ich alles über ihn, und doch spürten wir sehr wohl, dass wir nicht zusammen waren, um uns unsere jeweilige Vergangenheit zu erzählen, sondern um uns eine gemeinsame Gegenwart zu erfinden.
    Er besuchte mich von da an jeden Nachmittag.
    Ich muss gestehen, es lag an ihm und nicht an mir, dass wir nicht gleich miteinander schliefen. Ich – oder besser die durch und durch weibliche Frau in mir – hätte sich ihm bereits bei unserer zweiten Begegnung hingegeben. Doch er bestand darauf, dass wir uns Zeit ließen. Zweifellos wollte er diesem Augenblick seinen wahren Wert zumessen.
    Und so trafen wir uns mehrere Wochen lang und tauschten nur Worte aus und Küsse. Bis zu dem Tag, als wir unsere Lippen nicht mehr voneinander lösen konnten.
    Da begriff ich, er hatte aus Achtung vor mir nicht gewollt, dass ich mich ihm gleich hingab, und wartete nun auf ein Zeichen von mir.
    Was denn auch kam …«
     
    Emma van A. unterbrach ihren Bericht. Sie räusperte sich und dachte nach.
    »Es gibt nichts Hässlicheres als einen alten hinfälligen Körper, der sich der Sinnlichkeit erinnert. Das möchte ich Ihnen nicht zumuten. Ist man einmal so alt wie ich, sollte man bestimmte Themen nicht mehr ansprechen, andernfalls läuft man im Glauben, Begehrlichkeit zu wecken, Gefahr, Abscheu hervorzurufen. Daher werde ich das auch anders machen. Können wir den Tisch verlassen?«
    Wir begaben uns in den Salon, mitten zwischen die Bücher.
    Geschickt brachte sie ihren Rollstuhl vor einem alten Sekretär zum Stehen und setzte einen Mechanismus in Gang, der ein Geheimfach öffnete, dem sie ein schmales, in orangefarbenes Leder gebundenes Heft entnahm.
    »Hier, bitte. Als ich mich entschied, seine Geliebte zu werden, habe ich dies hier

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