Die Träumerin von Ostende
zweigeschlechtlichen Menschen, denn es geht die Legende, dass er nacheinander Mann und Frau war. So werden denn mein Gebieter und ich beschließen, die Erfahrungen des Teiresias zu neuem Leben zu erwecken: Mein Gebieter wird die Attitüde der Frau annehmen und ich die Attribute des Mannes.
10 – Zucchino mit Melonen
Ein altes Rezept vom Ägäischen Meer: Man nehme den Zucchino und platziere ihn so zwischen zwei Melonen, dass der Saft kommt.
11 – Warten im Labyrinth
Was ist ein Labyrinth? Ein Ort, an dem man sich verläuft, eine Wand, die eine andere verbirgt, ein vermeintlicher Ausgang, ein geheimnisvolles, unerreichbares Nervenzentrum. Das Spiel besteht darin, wie ein im Labyrinth Gefangener, die Präliminarien mehrfach zu wiederholen, sich in der Tür zu irren, die falsche Wand zu reiben, die Stelle daneben zu kitzeln, kurz, den Höhepunkt langsam zu erreichen. Er ist wohlgemerkt nicht verboten, aber so lange wie möglich hinauszuzögern.
12 – Die Olympischen Spiele
Wie die Athleten des Altertums werden mein Gebieter und ich nackt sein und gesalbt mit Öl. Sodann bieten sich uns zwei Möglichkeiten: Wir können miteinander kämpfen oder einander umsorgen. Wenn wir kämpfen, wird jeder den anderen zu unterwerfen suchen. Wenn wir einander umsorgen, wird einer den anderen massieren. Das eine schließt das andere nicht aus. Jede Form der Unterwerfung ist ebenso erlaubt wie jede Form der Zärtlichkeit.
13 – Schnee auf dem Parnass
Wenn Schnee liegt auf dem Parnass, hinterlässt die Kälte eine brennende Erinnerung auf der Haut; und dennoch vereinen sich dort die Götter. So werden wir denn, mein Gebieter und ich, uns lieben wie die Götter, mit geröteter Haut, nicht vom Schnee, sondern von Schlägen.
Beeindruckt schloss ich das Bändchen. Ich wagte nicht, Emma van A. anzusehen, es hätte mich verlegen gemacht, ich hätte nie vermutet, dass sie so etwas schrieb.
»Was halten Sie davon?«, fragte sie.
Das war genau die Frage, die ich nicht hören wollte! Glücklicherweise blieb mir für eine Antwort keine Zeit, denn Emma van A. nahm mir den Text aus der Hand und erklärte:
»Ich werde Ihnen seine Vorlieben nicht verraten. Unsere Umarmungen jedenfalls waren mit einem Mal etwas ganz anderes. Er wurde süchtig nach mir und ich nach ihm. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schön sein könnte, mit einem Mann zusammen zu sein, er erwies sich als lasziv, sinnlich, stets bereit zu neuen Sinnesfreuden … Er genoss nichts mehr, als zu mir zu kommen und mit leuchtenden Augen auf eine Zeile unserer Speisekarte zu deuten. Wer zog den anderen mit? Weckte seine Lust die meine, oder erriet er meine Absichten? Ich werde es nie wissen. Ansonsten unterhielten wir uns über Literatur …«
Sie fuhr mit ihrem Handrücken zärtlich über das Leder.
»Eines Tages schenkte auch er mir ein solches Brevier, seine auf mich abgestimmte Speisekarte. Leider musste ich sie später verbrennen.«
Während Emma van A. dieser Erinnerung nachhing, hatte ich Muße, mir genüsslich auszumalen, was Guillaume geschrieben haben mochte. Hatte er Neues ersonnen? Trieb er die Kühnheit seiner Geliebten noch weiter auf die Spitze? Hinter ihrer Sprache und ihrem ›Sie‹ erlaubten sich diese Liebenden aus einer anderen Zeit eine unerhörte Freizügigkeit, sie bekannten sich zu ihren Phantasien, rissen den Partner mit und ließen nicht zu, dass der Sexualakt zu einer sich mechanisch wiederholenden Angelegenheit verkam, sondern erhöhten ihn zu einem Augenblick voll erotischer Poesie und Einfallsreichtum.
»Nachdem Guillaume dieses Heft gelesen hatte«, fuhr Emma fort, »entdeckte er zu seinem Erstaunen, dass er der erste Mann war, der mich besitzen sollte.«
»Wie bitte?«
»Ja, Sie haben richtig verstanden. Er nahm mir meine Unberührtheit tatsächlich erst ab, als er sich ihrer selbst vergewissert hatte.«
»Ich muss gestehen, dass sich diese Seiten nicht gerade wie die Grundsätze einer unerfahrenen Jungfrau ausnehmen.«
»Ich war Jungfrau, aber nicht unerfahren. Wie sonst hätte ich diese Zeilen schreiben und anschließend umsetzen können! Nein, ich hatte meine Erfahrungen zuvor in Afrika gemacht.«
»In Afrika?«
»Und das habe ich Guillaume auch erklärt.«
»Ich habe meine Kindheit in Schwarzafrika verbracht, in einer weitläufigen Villa mit Säulen, in der Dienstboten versuchten, uns mit Markisen und Ventilatoren vor der Gluthitze zu schützen, und uns doch nur heißen Schatten spenden konnten. Ich bin im
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