Die Träumerin von Ostende
sie auf die Leute zulief, verletzte sich, brach in Tränen aus und erzählte, was vorgefallen war.
Ihre ersten Zuschauer gingen ihr problemlos auf den Leim und glaubten ihr jedes Wort, ihre Geschichte und ihren Kummer. Sie teilten sich in zwei Gruppen. Die Frauen begleiteten Gabrielle hinunter ins Tal, während die Männer sich auf die Suche nach Gab machten.
Im Hotel Bellevue war das Personal offenbar bereits telefonisch unterrichtet, denn alle erwarteten Gabrielle mit betretenen Mienen. Ein bleichgesichtiger Gendarm informierte sie, dass ein Hubschrauber mit Rettungshelfern an Bord auf dem Weg zum Unfallort sei.
Bei dem Wort »Rettungshelfer« erschauderte sie. Glaubten die Leute etwa, ihn lebend zu finden? Hatte Gab seinen Sturz womöglich überlebt? Sie dachte an seine Schreie, daran, wie sie verhallten, an die Stille, und ihr kamen Zweifel.
»Sie … Sie glauben, dass er vielleicht noch lebt?«
»Wir hoffen es, Madame. War er in guter physischer Verfassung?«
»In bester, aber er ist immerhin mehrere hundert Meter tief gestürzt und auf die Felsen aufgeschlagen.«
»Wir haben schon die erstaunlichsten Fälle erlebt. Solange wir nichts Genaues wissen, chère Madame, müssen wir optimistisch bleiben.«
Ausgeschlossen! Entweder war sie verrückt oder er. Sprach dieser Mann etwa so, weil er etwas wusste, oder war es nur das übliche stereotype Gerede? Zweifellos Letzteres … Gab konnte unmöglich überlebt haben. Und selbst wenn er wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen war, musste er sich alle Knochen gebrochen haben, unter Schock stehen, durch innere und äußere Blutungen gelähmt sein; er war gewiss außerstande sich zu artikulieren! Sofern er nicht schon tot war, würde er in den nächsten Stunden sterben. Hatte er noch irgendetwas zu den Sanitätern sagen können, ehe man ihn hoch in den Hubschrauber zog? Hatte er sie womöglich verraten? Unwahrscheinlich. Hatte er überhaupt etwas mitbekommen? Nein. Nichts. Nein, nein und tausendmal nein.
Sie vergrub ihren Kopf in den Händen, und die Anwesenden dachten, sie verberge ihre Tränen und bete. In Wirklichkeit aber verfluchte sie den Gendarm. Obgleich sie sich ihrer Sache eigentlich sicher war, kamen ihr jetzt doch noch Zweifel, dank dieses Idioten. Und nun zitterte sie vor Angst!
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie sprang auf.
Der Chef der Rettungsmannschaft sah sie an wie ein geprügelter Hund.
»Sie müssen jetzt stark sein, Madame.«
»Was ist mit ihm?«, rief Gabrielle voller Angst.
»Er ist tot, Madame.«
Gabrielle stieß einen markerschütternden Schrei aus. Zehn Personen eilten zu ihr, um sie zu beruhigen und zu trösten. Sie schrie und schluchzte ungeniert, ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Uff, er hatte es nicht geschafft, würde nicht ein Sterbenswörtchen sagen, dieser Blödmann vom Dienst hatte ihr für nichts und wieder nichts einen Schreck eingejagt!
Das allgemeine Bedauern war groß. Was für ein erhebendes Gefühl, die Mörderin zu sein und für das Opfer gehalten zu werden. Sie gab sich der Situation voll und ganz hin, bis zum Abendessen, das sie selbstverständlich verweigerte.
Um einundzwanzig Uhr erschien nochmals die Polizei und erklärte, man müsse sie befragen. Sie hatte zwar damit gerechnet, gab sich aber überrascht. Noch vor ihrer Tat hatte sie sich genau überlegt, was sie aussagen würde. Sie durfte nicht den geringsten Zweifel an einem Unfall aufkommen lassen und musste den Verdacht, der üblicherweise zunächst auf sie, als Ehefrau des Toten fiel, zerstreuen.
Man nahm sie mit in ein rosa verputztes Polizeirevier, wo sie ihre Version der Ereignisse erzählte, während sie ein Kalenderblatt mit drei entzückenden Kätzchen betrachtete.
Obgleich die Männer, die sie verhörten, sich für diese oder jene Frage entschuldigten, antwortete Gabrielle so, als käme ihr selbst nicht eine Sekunde lang in den Sinn, dass man sie auch nur ansatzweise verdächtigen könnte. Alle waren von ihr eingenommen, sie unterzeichnete das Protokoll und kehrte ins Hotel zurück, um eine ruhige Nacht zu verbringen.
Am nächsten Tag trafen ihre beiden Töchter und ihr Sohn in Begleitung der jeweiligen Partner ein. Und mit einem Mal wurde ihr die Sache unangenehm. Angesichts des Kummers ihrer Kinder, die sie liebte, verspürte sie echte Gewissensbisse, sie bereute zwar nicht, Gab umgebracht zu haben, schämte sich aber, dass sie ihnen solchen Schmerz zufügte. Wie schade, dass er auch ihr Vater gewesen war! Zu
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