Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Netzwerk:
Herz legte, auf ein Herz, das immer nur im Traum geschlagen hatte.
     
    Am dritten Tag der Totenwache nahmen Gerda, ihr Mann, ihre Kinder und ich Abschied von Emma van A., anschließend warteten wir beim Tarot-Spiel auf die Männer des Bestattungsinstituts.
    Als es an der Tür läutete, rief ich Gerda, die gerade in die Küche gegangen war, zu:
    »Bleiben Sie nur, ich mache den Leuten auf.«
    Ich war verwundert, nur einen einzigen Mann vor der Tür zu sehen.
    »Guten Tag, Sie kommen allein?«
    »Verzeihen Sie, Monsieur, bin ich hier richtig, bei Madame Emma van A.?«
    Jetzt wurde mir klar, dass ich mich in der Identität des Besuchers getäuscht hatte, zumal plötzlich am äußersten Ende der Straße mit majestätischer Langsamkeit der Leichenwagen auftauchte.
    »Verzeihen Sie, ich habe Sie für einen Angestellten des Bestattungsinstituts gehalten. Sie wissen sicher, dass Madame Emma van A. gestorben ist?«
    »Ja, Monsieur, deshalb bin ich hier.«
    Als er sich umdrehte, sah er die Sargträger aus ihrem Wagen steigen.
    »Ich bin froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Könnte ich Sie wohl unter vier Augen sprechen?«
    Eine elegante Erscheinung in einem tadellos geschnittenen dunklen Anzug mit Schlips und der ruhigen Bestimmtheit von jemandem, der es gewohnt ist, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Vertrauensvoll bat ich ihn in den Salon.
    »Hören Sie, Monsieur, ich werde keine großen Umschweife machen«, sagte er in nahezu akzentfreiem Französisch. »Ich komme in einer ungewöhnlichen Mission, die ich selbst nicht recht verstehe. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Edmond Willis.«
    Er übergab mir eine Visitenkarte mit Wappen, die anzusehen ich kaum Zeit hatte, da er leise fortfuhr:
    »Seit fünf Jahren bin ich Generalsekretär im königlichen Schloss von *. Als man mir meinen Aufgabenbereich zuteilte, wurde ich von meinem Vorgänger mit einer skurrilen Angelegenheit betraut, wie dieser bereits von seinem Vorgänger und so weiter und so fort, die ganze Reihenfolge rückwärts. Bringen Übergaben dergleichen mit sich? Oder wollte man Genaueres verschleiern? Jedenfalls wissen wir heute im Königshaus nicht, wer ursprünglich hinter dieser Bitte stand … Wie dem auch sei, die Anweisung ist nach wie vor klar: Erlangt der Generalsekretär des Königshauses Kenntnis vom Ableben der Madame Emma van A., Villa Circé, Rue des Rhododendrons Nr. 2, Ostende, ist er angewiesen, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Handschuh der Verstorbenen mit in den Sarg gelegt wird.«
    Und er übergab mir einen weißen Handschuh, den Zwilling des Handschuhs, den Emma van A. auf ihrem Totenbett an ihr Herz gepresst hielt.

Ein perfektes Verbrechen
    I n einigen Minuten würde sie, wenn alles gutging, ihren Ehemann töten.
    Hundert Meter unterhalb des Gipfels verengte sich der gewundene Pfad gefährlich. An dieser Seite fiel der Berg nicht mehr sanft ab, sondern endete jäh in einem Steilhang.
    Ein falscher Schritt, und man stürzte in den Tod. Kein Baum, kein Busch, kein Felsvorsprung, an dem man sich hätte festhalten können; aus der Felswand ragten nur spitze Zacken, die einen Körper in Stücke reißen würden.
    Gabrielle verlangsamte ihren Schritt und sah sich aufmerksam um. Niemand auf dem Pfad hinter ihnen, kein Wanderer in den angrenzenden Tälern. Nirgendwo ein Zeuge also. Nur eine Handvoll Schafe, die fünfhundert Meter südlich auf den Wiesen weideten und gierig mit gesenkten Köpfen fraßen.
    »Na, meine Alte, müde?«
    Sie verzog das Gesicht, als ihr Mann sie so nannte. »Meine Alte«, das sollte er lieber nicht sagen, wenn er seine Haut retten wollte!
    Er hatte sich besorgt umgedreht, da sie stehen geblieben war.
    »Halt noch ein bisschen durch. Wir können hier nicht stehen bleiben, es ist zu gefährlich.«
    Gabrielle frohlockte innerlich bei jedem Wort des Mannes, der bald tot sein würde. »Wenn du wüsstest, wie recht du hast! Pass nur schön auf, sonst musst du noch dran glauben, mein
Alter

    Eine gleißende Sonne lastete bleiern auf ihnen und gebot den Almen Stille. Kein Windhauch streifte die Matten, als wollte das überhitzte Gestirn alles, was es berührte, Pflanzen wie Menschen, in eine mineralische Substanz verwandeln, alles Leben vernichten.
    Gabrielle holte ihren Mann wieder ein und murmelte missmutig:
    »Nur zu, weiter, es geht schon.«
    »Bist du dir auch sicher, Liebling?«
    »Wenn ich’s doch sage.«
    Hatte er ihre Gedanken gelesen? Verhielt sie sich ungewollt anders als sonst? Sie musste ihren Plan um

Weitere Kostenlose Bücher