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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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dumm, dass sie ihre Kinder nicht von einem anderen Mann empfangen hatte, um ihnen die Tränen für diesen da zu ersparen … Nun ja, zu spät. Sie flüchtete sich in eine Art verstörter Stummheit.
    Der einzige praktische Nutzen, den Gabrielle aus der Gegenwart ihrer Kinder zog: Sie nahmen ihr den Gang ins Leichenschauhaus ab und identifizierten den Toten. Was sie zu schätzen wusste.
    Sie versuchten auch, Artikel in der Lokalpresse abzufangen, die über den tragischen Absturz berichteten, nicht ahnend, dass Schlagzeilen wie ›Tödlicher Unfall eines Wanderers‹ oder ›Opfer mangelnder Vorsicht‹ Gabrielle frohlocken ließen, da sie ihr nicht nur Gabs Tod, sondern auch ihre eigene Unschuld schwarz auf weiß bestätigten.
    Ein Detail allerdings missfiel Gabrielle: Als ihre älteste Tochter mit rot verweinten Augen aus dem gerichtsmedizinischen Institut zurückkam, glaubte sie der Mutter ins Ohr flüstern zu müssen: »Weißt du, selbst im Tod ist Papa noch sehr schön.« Was fiel der Kleinen ein? Ob Gab schön war oder nicht, ging einzig sie etwas an. Und sonst niemanden! Hatte sie nicht schon genug gelitten deshalb?
    Nach dieser Äußerung zog sich Gabrielle, bis nach der Beerdigung, in sich selbst zurück.
     
    Als sie in ihr Haus nach Senlis zurückkehrte, fanden sich Nachbarn und Freunde ein, um Gabrielle ihr Beileid auszusprechen. Zunächst hocherfreut, empfand sie es bald als lästig, ein und dieselbe Geschichte wieder und wieder erzählen zu müssen und von ihren Besuchern die immergleichen echohaften Plattitüden zu hören. Ihr trauriger, resignierter Gesichtsausdruck verriet nicht, dass sie innerlich vor Zorn kochte: Wozu hatte sie sich ihres Mannes entledigt, wenn sie pausenlos von ihm reden musste? Zumal sie darauf brannte, endlich nach oben in den dritten Stock gehen zu können, um dort die Mauer zu durchbrechen, sein Versteck zu durchsuchen und herauszufinden, was sie so gequält hatte. Wenn man sie doch nur endlich allein ließe!
    Ihr herrschaftliches Stadthaus, nahe dem Befestigungswall, glich mit seinen vielen, von Kletterrosen überwucherten Türmchen, Zinnen, Schießscharten, steinernen Balkons, Schmuckrosetten, geschwungenen Treppen und bunten gotischen Fenstern einem Märchenschloss. Mit der Zeit hatte Gabrielle anhand der Kommentare ihrer Besucher gelernt, den Grad ihrer Unbildung zu bestimmen. Sie unterteilte sie in vier Kategorien, vom Kulturbanausen bis zum Langweiler. Der Kulturbanause beäugte ihr Gemäuer feindselig und grummelte: »Ganz schön alt«; der Kulturbanause, der sich für kultiviert hielt, murmelte: »Mittelalter, oder?«; der wirklich kultivierte Kulturbanause aber ließ sich nicht täuschen: »Nachempfundenes Mittelalter, 19. Jahrhundert, stimmt’s?«; und zu guter Letzt rief der Langweiler: »Viollet-le-Duc!«, bevor er sich über jedes einzelne Bauelement ausließ, das der berühmte Architekt und seine Werkstatt verfälscht, wiederhergestellt oder erfunden haben konnten, und damit allen auf die Nerven ging.
    Ein solcher Wohnsitz war nicht ungewöhnlich in Senlis, einer nördlich von Paris gelegenen Kleinstadt im Departement Oise, die auf ihrer Anhöhe zahlreiche historische Bauten versammelte. Neben Steinen aus der Zeit Jeanne d’Arcs und Gebäuden aus dem 17. und 18. Jahrhundert gehörte Gabrielles Haus zu den weniger stilvollen. Es war erst anderthalb Jahrhunderte alt, somit neueren Datums, und über seine Ästhetik ließ sich streiten. Dessen ungeachtet lebte Gabrielle, seit sie es von ihrem Vater geerbt hatte, zusammen mit ihrem Mann dort, und es belustigte sie, dass seine Mauern sie als »neureich« brandmarkten, zumal sie selbst sich nie für reich oder neu gehalten hatte.
    Im dritten Stock dieses Hauses, das Alexandre Dumas und Sir Walter Scott geradezu entzückt hätte, befand sich ein Raum, der Gab gehörte. Nach der Hochzeit war man übereingekommen, dass er, obgleich er unter ihrem Dach wohnte, seine eigenen vier Wände haben sollte, die ausschließlich von ihm genutzt und ihm nicht von Gabrielle streitig gemacht werden konnten; sie hatte dort nur Zutritt, um Gab zu holen, wenn er sich verspätete, ansonsten musste sie ihnen fernbleiben.
    Es gab dort nichts Außergewöhnliches – Bücher, Pfeifen, Landkarten, Globen –, und der Komfort beschränkte sich auf einige wenige ramponierte Ledersessel. In einer der dicken Wände allerdings befand sich eine von einer Klappe verschlossene Öffnung. Gab hatte vor zwanzig Jahren einige Ziegel entfernt und sie

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