Die Träumerin von Ostende
dort angebracht. Wann immer er etwas dahinter verstaute, verputzte er die Oberfläche anschließend neu, um die Nische vor fremden Blicken zu schützen. Aufgrund dieser Vorsichtmaßnahmen wusste Gabrielle, dass sie nicht neugierig sein konnte, ohne dass Gab ihr auf die Schliche kam. Und so hatte sie Gabs Geheimnis immer respektiert, zunächst aus Liebe und später aus Angst. Er machte sich oft einen Spaß daraus, sie auf die Probe zu stellen, und amüsierte sich auf ihre Kosten …
Jetzt aber hielt sie nichts mehr davon ab, die Wand zu durchbrechen.
In den ersten drei Tagen wollte Gabrielle weder zum Hammer noch zum Brecheisen greifen, es hätte sich nicht geschickt, davon abgesehen, dass sie in Anbetracht des Besucherstroms gar keine Zeit dazu hatte. Als am vierten Tag Telefon und Türglocke endlich verstummten, nahm sie sich vor, ihre Neugierde nach einem kurzen Besuch in ihrem dreihundert Meter entfernten Antiquitätengeschäft zu stillen.
Unmittelbar an der städtischen Ausfallstraße wies ein Schild mit der Aufschrift ›G. und G. de Sarlat‹ in goldenen Lettern dezent auf einen Antiquitätenhandel hin, wie man ihn in der Region schätzte, mit anderen Worten, auf einen Ort, an dem man sich sowohl nach größeren Stücken – Buffets, Tischen und Schränken – zur Möblierung weitläufiger Zweitwohnsitze umsehen konnte als auch nach Nippes – Lampen, Spiegeln und kleinen Figuren –, um bereits bestehende Interieurs auszuschmücken. Man war hier auf keinen besonderen Stil spezialisiert, die meisten aber waren vertreten, einschließlich geschmackloser Imitationen, vorausgesetzt, sie waren älter als hundert Jahre.
Gabrielle erkundigte sich zunächst bei den beiden Angestellten, welche Stücke während ihres verhängnisvollen Urlaubs in Savoyen verkauft worden waren, und suchte dann ihre Buchhalterin auf. Nach einer kurzen Unterredung machte sie einen kleinen Gang durch ihr Geschäft, wo sich, kaum war in den umliegenden Straßen publik geworden, dass sich die ›arme Madame Sarlat‹ dort aufhielt, die Klatschbasen eingefunden hatten.
Als Gabrielle unter ihnen auch Paulette entdeckte, zuckte sie zusammen.
»Mein armes Schätzchen«, rief Paulette aus, »so jung und schon Witwe!«
Paulette suchte nach einem Aschenbecher, um ihre von einem orangefarbenen Lippenstift verschmierte Zigarette abzulegen, wurde nicht fündig und trat sie mit ihrem grünen Absatz aus, stellte sich theatralisch in Positur und ging mit weitgeöffneten Armen auf Gabrielle zu.
»Mein armer Liebling, wie unglücklich ich bin, dich so unglücklich zu sehen.«
Gabrielle ließ sich zitternd umarmen.
Paulette war nach wie vor das einzige weibliche Wesen, das sie fürchtete, denn sie besaß die Gabe, in anderen zu lesen. Bei vielen als die Frau mit der bösen Zunge verrufen, vermochte Paulette mit einem Laserstrahl – ein durchdringender Blick aus vorquellenden Augen – in fremde Hirne zu sehen, um anschließend Sätze zu äußern, die den guten Ruf eines Menschen für immer ruinieren konnten.
In ihrer Umklammerung drohte Gabrielle an einigen der gelben, durch jahrzehntelanges Färben und Dauerwellen brüchig gewordenen Haarsträhnen Paulettes zu ersticken, hielt dann aber tapfer dem vor Make-up dunkel glänzenden Gesicht stand.
»Sag, hat die Polizei dich verhört? Sie haben dich gefragt, ob du ihn umgebracht hast, stimmt’s?«
»Da haben wir’s«, dachte Gabrielle, »sie ahnt bereits, dass ich es war. Sie verliert keine Zeit, geht gleich zum Angriff über.«
Gabrielle nickte und senkte den Kopf. Paulette reagierte mit einem Aufschrei:
»Diese Mistkerle! Dir so was anzutun! Dir! Ausgerechnet dir, du warst doch ganz verrückt nach deinem Gab, hast ihm dreißig Jahre lang die Füße geküsst! Hättest dich jeder Operation unterzogen, dich glatt in eine Maus oder einen Mann umwandeln lassen, hätte er dich drum gebeten! Diese Mistkerle! Wundert mich kein bisschen! Diese elenden Mistkerle! Weißt du, was die mir angetan haben, mir? Als ich meinen zweiten Jungen, den Romuald, noch bei mir hatte, musste ich eines Tages mit ihm ins Krankenhaus. Der Kleine war hingeknallt, als er aus der Badewanne stieg, und überall grün und blau; ja, und da kommt doch die Polizei in die Notaufnahme und fragt mich, ob ich den Jungen nicht misshandelt habe! Ja! Und dann haben sie mich mit aufs Revier geschleift! In Gewahrsam genommen! Mich! Ganze achtundvierzig Stunden lang. Mir, der Mutter, wollten sie was anhängen, wo ich mein Kind doch
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