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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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selbst ins Krankenhaus gebracht hatte! Diese Schweine! Und das Gleiche haben sie jetzt mit dir gemacht?«
    Gabrielle begriff, dass Paulette sie nicht im Geringsten verdächtigte, sondern sich auf ihre Seite stellte. Selbst ein ehemaliges Opfer, zeigte sie ihr lediglich ihre Anteilnahme. Jede von der Polizei verhörte Frau wurde, analog zu ihrem eigenen Fall, unweigerlich zu einem unschuldigen Opfer.
    »Ja. Sie haben mich noch am selben Abend verhört.«
    »Diese Hunde! Und wie lange!«
    »Mehrere Stunden!«
    »Saubande! Mein armer Schatz, das macht einen fertig, was?«
    Paulette zog ihre Freundin, der sie die gleiche innige Liebe entgegenbrachte, die sie für sich selbst empfand, erneut stürmisch an die Brust.
    Erleichtert erlaubte ihr Gabrielle, noch einen Augenblick lang auf die Polizei zu schimpfen, ehe sie zurück nach Hause ging, um die Sache mit Gabs Versteck in Angriff zu nehmen.
    Um zwölf Uhr mittags erklomm sie, mit dem entsprechenden Werkzeug in der Hand, die Stufen und begann, den Verputz abzuschlagen. Die Klappe sprang auf und gab einen Hohlraum frei, in dem sich vier übereinandergestapelte Schachteln befanden.
    Gabrielle rückte einen Beistelltisch heran und stellte die Schachteln darauf. Wenn sie auch nicht wusste, was sie enthielten, so sagten sie ihr doch etwas: Es waren Blechschachteln für Konfekt, auf deren Etiketten, obgleich von der Zeit und der Feuchtigkeit stark mitgenommen, noch immer ›Madeleines de Commercy‹ zu lesen war, ›Bêtises de Cambrai‹, ›Coussins de Lyon‹ und der Namen eines anderen Naschwerks dieser Art.
    Sie war gerade dabei, die erste Schachtel zu öffnen, als an der Haustür geläutet wurde.
    Unverrichteter Dinge zog sie die Zimmertür hinter sich zu, wobei sie den Schlüssel im Schloss stecken ließ, und ging in der festen Absicht nach unten, sich des Störenfrieds schnell zu entledigen.
    »Polizei, Madame! Dürfen wir eintreten?«
    Auf der Außentreppe standen mehrere streng aussehende Männer.
    »Selbstverständlich. Was wollen Sie?«
    »Sind Sie Gabrielle de Sarlat, die Ehefrau des verstorbenen Gabriel de Sarlat?«
    »Ja.«
    »Wenn Sie uns bitte folgen wollen.«
    »Weshalb?«
    »Man erwartet Sie auf dem Polizeirevier.«
    »Wenn man mich zum Unfall meines Mannes vernehmen will, so ist das bereits durch Ihre Kollegen aus Savoyen geschehen.«
    »Es geht inzwischen um etwas anderes, Madame. Sie stehen im Verdacht, Ihren Mann getötet zu haben. Ein Hirte hat gesehen, wie Sie ihn in den Abgrund gestoßen haben.«
     
    Nach zehn Stunden in Polizeigewahrsam war sich Gabrielle nicht mehr sicher, wen sie mehr verabscheute, den Kommissar oder ihren Anwalt. Den Kommissar hätte sie vielleicht noch entschuldigen können … Wenn er sie quälte, dann nur, weil er seine Arbeit tat, nicht mehr und nicht weniger, er war aufrichtig bemüht, sie als Schuldige zu überführen. Ihr Anwalt hingegen beunruhigte sie, denn er wollte wissen. Sie aber bezahlte ihn, damit er glaubte, nicht damit er wusste! Sie bezahlte ihn für seine juristischen Kenntnisse, seine Erfahrung vor Gericht, seine Fähigkeit als Verteidiger. Ob er die Wahrheit kannte oder nicht, war ihr einerlei.
    Sobald sie allein waren, hatte sich Maître Plissier, ein braunhaariger, gutaussehender Vierzigjähriger mit wichtigtuerischem Gehabe, über sie gebeugt und ihr mit einer schneidenden Stimme, wie wir sie von heldenhaften Cowboys in synchronisierten amerikanischen Western kennen, gesagt:
    »Ich möchte jetzt, dass Sie mir, einzig und allein mir, die Wahrheit anvertrauen, Madame Sarlat. Sie wird nicht nach außen dringen. Haben Sie Ihren Mann in den Abgrund gestoßen, ja oder nein?«
    »Warum sollte ich das getan haben?«
    »Antworten Sie mir nicht mit einer Frage. Haben Sie ihn gestoßen?«
    »Wie ich bereits sagte: Warum sollte ich das getan haben? Man bezichtigt mich einer Tat, die keinerlei Sinn macht. Ich habe meinen Mann geliebt. Wir haben dreißig glückliche gemeinsame Jahre verbracht. Wir haben drei Kinder, die das bezeugen können.«
    »Wir könnten auf Handlung im Affekt plädieren.«
    »Affekt? Leidenschaft? Mit achtundfünfzig? Nach dreißig Jahren Ehe?«
    »Warum nicht?«
    »Wenn man sich mit achtundfünfzig Jahren noch liebt, Monsieur, dann weil man sich liebhat, man macht sich nichts mehr vor, das Ganze ist eine eher harmonische als leidenschaftliche Angelegenheit, ohne Exzesse, ohne Dramen.«
    »Madame Sarlat, bitte erzählen Sie mir nicht, was ich zu denken habe, sagen Sie mir lieber, was
Sie
denken.

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