Die Träumerin von Ostende
jeden Preis ausführen und versuchte daher, seine Bedenken mit einem Lächeln zu zerstreuen.
»Ich bin wirklich froh, wieder hier oben zu sein. Als Kind bin ich oft mit meinem Vater hierhergekommen.«
Er ließ seinen Blick über die schroff abfallenden Hänge gleiten: »Wow, wie klein man sich hier fühlt!«
Ihre innere Stimme keifte: »Gleich bist du noch kleiner.«
Sie setzten ihren Aufstieg fort. Er vorn, sie hinten.
Nur nicht die Nerven verlieren. Nicht zögern, ihn einfach stoßen, wenn es so weit war. Ohne Vorwarnung. Seinen Blick meiden. Die richtige Bewegung abpassen. Nachhelfen, nichts sonst. Gabrielle hatte den Entschluss schon seit langem gefasst, jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er näherte sich unaufhaltsam der gefährlichen Biegung. Gabrielle ging schneller, ohne dass er es bemerkte. Sie folgte ihm hastig, angespannt, atmete kaum, durfte keinen Verdacht wecken und wäre beinahe auf einem losen Stein ausgerutscht. »Oh nein«, lachte es in ihr auf, »nicht du! Du wirst doch jetzt nicht verunglücken, jetzt, wo die Lösung so nah ist.« Ein kurzer Augenblick der Schwäche, aus dem sie eine ungeheure Kraft schöpfte; sie stürzte sich auf den Rücken vor ihr und verpasste ihm einen heftigen Stoß mit der Faust.
Der Mann strauchelte, verlor das Gleichgewicht. Sie trat ihn in die Waden und versetzte ihm so den Gnadenstoß.
Er knickte ein, verlor den Halt und stürzte ins Leere. Entsetzt drückte Gabrielle sich rückwärts an den Hang, um nicht selbst zu fallen und nicht zu sehen, was sie vorsätzlich getan hatte.
Es zu hören reichte …
Der Widerhall eines schon fernen Schreies, grauenvoll, angsterfüllt, dann ein Aufprall und noch einer, begleitet von Schmerzensschreien, gefolgt von weiteren Geräuschen, etwas zerbrach, zerriss, Steine rollten, und dann mit einem Mal Totenstille.
Endlich! Geschafft. Sie war frei.
Ringsum boten die Alpen ihre grandiose, friedfertige Landschaft dar. Am wolkenlosen Himmel glitt ruhig ein Vogel über die Täler. Kein Sirenenton, der sie anklagte, kein Polizist, der mit Handschellen kam. Die Natur grüßte sie, souverän, heiter, gab sich als verständige Komplizin.
Gabrielle löste sich von der Felswand und beugte sich über den Abgrund. Mehrere Sekunden vergingen, ehe sie den zerschmetterten Körper entdeckte. Er lag an einer anderen Stelle als erwartet. Es war vorbei! Gab hatte aufgehört zu atmen. Alles war ganz einfach. Sie empfand nicht die leiseste Schuld, nur Erleichterung. Im Übrigen fühlte sie sich dem Menschen, der dort unten lag, schon längst nicht mehr verbunden.
Sie setzte sich und pflückte eine blassblaue Blume, nahm sie in den Mund, kaute daran. Jetzt würde sie Zeit zum Faulenzen haben, zum Meditieren und musste nicht immerzu daran denken, was Gab tat oder ihr verheimlichte. Es war wie ein Neuanfang.
Wie viele Minuten mochte sie so dagesessen sein?
Der Klang einer Glocke, wenn auch durch die Entfernung gedämpft, riss sie aus ihrer Verzückung. Die Schafe. Ja, sie musste zurück nach unten, musste Theater spielen, Alarm schlagen. Verfluchter Gab! Kaum war er nicht mehr da, musste sie ihm schon wieder ihre Zeit opfern, sich für ihn anstrengen, sich zwingen! Würde er sie jemals in Ruhe lassen?
Sie richtete sich auf, beruhigt, stolz auf sich selbst. Das Wichtigste war getan, jetzt galt es nur noch ein paar Dinge zu erledigen, und sie hatte ihren Frieden.
Auf dem Rückweg rief sie sich alles noch einmal ins Gedächtnis. Es war seltsam, sich daran zu erinnern. Sie hatte den Plan in einer Zeit gefasst, als Gabs Gegenwart für sie zu einer Bürde wurde. In einer anderen Zeit. Einer Zeit, die bereits lange hinter ihr lag.
Sie ging leichten Schritts, schneller als sie hätte gehen sollen, denn wenn sie nach Atem rang, würden ihr die Leute eher Glauben schenken. Sie musste ihre Euphorie zügeln, ihre Freude unterdrücken angesichts dieser drei Jahre angestauter Wut, die jetzt der Vergangenheit angehörten. Drei Jahre, in der die tiefe, heftige Empörung sich wie ein Pfeil in ihr Hirn eingegraben hatte. Gab würde ihr nicht mehr mit diesem »meine Alte« kommen, sie nicht mehr mit diesem mitleidigen Blick kränken, den er bekam, sobald er die Hand nach ihr ausstreckte, würde nicht mehr vorgeben, sie seien glücklich. Er war tot. Hallelujah. Es lebe die Freiheit.
Nach zwei Stunden Fußmarsch bemerkte sie Wanderer und eilte auf sie zu.
»Hilfe! Mein Mann! Bitte helfen Sie mir! Hilfe!«
Es hätte nicht besser kommen können. Sie stürzte, als
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