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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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ich beruhigt.
    Und so verließ ich still Emma van A.
     
    Am nächsten Morgen, um acht Uhr dreißig, weckten mich Gerdas Schreie. Sie hatte ihre Tante tot im Bett vorgefunden.
    Sanitäter, Ärzte, Sirenen, Polizisten, Lärm, Geklingel, schlagende Türen und ein geschäftiges Hin und Her bestätigten im Laufe des Tages, was wir, als wir ihr Schlafzimmer betraten, bereits festgestellt hatten: Emma van A. hatte erneut einen Herzinfarkt erlitten.
    Gerda verhielt sich vorbildlich. Bedrückt, aber effizient kümmerte sie sich um alles, mich inbegriffen. Sie fragte mich, ob ich meinen Aufenthalt – zwei Wochen im Voraus bezahlt – abkürzen wolle oder nicht. Da ich entschied zu bleiben, dankte sie mir, auch im Namen ihrer Tante, als erwiese ich ihnen einen persönlichen Gefallen, dabei hätte ich gar nicht gewusst, wohin ich sonst hätte gehen können.
    Emma van A. wurde gewaschen, geschminkt und in ihrem Bett aufgebahrt, ehe man sie in den Sarg bettete.
    Ich setzte meine Ausflüge fort, die ich als seltsam tröstlich empfand. Heute war das Meer in seinen Grautönen von einer traurigen Würde. Ich war nach Ostende gekommen, um von einer Trennung zu genesen, und hatte mir einen unbestimmten, freundlichen und nostalgischen Ort ausgemalt, Nebel, in dem ich mich einnisten konnte. Ich hatte mich getäuscht! Ostende hatte nichts Unbestimmtes, nicht mehr als die Poesie – und dennoch wurde ich dort gesund. Emma van A. hatte mich erneut mit starken Gefühlen konfrontiert und mich, in ihrer eigenwilligen Art, wieder aufgerichtet.
    Wie ein Privileg kostete ich diese letzten Augenblicke aus, in denen sie uns, Gerda und mich, noch bei sich, in der Villa Circé, behielt.
    Um siebzehn Uhr brachte mir ihre Nichte Tee und brummte:
    »Der Notar hat mich angerufen, er sagt, es gibt eine Verfügung bezüglich ihrer Beerdigung. Bekanntmachungen in zwei belgischen Tageszeitungen, zwei niederländischen, zwei dänischen und zwei englischen. Sie war wirklich verrückt!«
    »Und, haben Sie sich darum gekümmert?«
    »Hat der Notar bereits erledigt.«
    »Wer erbt?«
    »Ich. Wie sie mir versprochen hatte. Wusste ich bereits. Ach ja, und sie will unbedingt eine Totenwache von drei Tagen, was normal ist, und dann noch was, du glaubst es nicht: Sie will mit einem Handschuh begraben werden.«
    Mich schauderte. Gerda verdrehte die Augen und fuhr fort:
    »Ein Handschuh, der in einem Mahagonikästchen unten in ihrem Kleiderschrank liegen soll.«
    Ich wusste, was gemeint war, schwieg aber und erzählte Gerda nichts von den Wahnvorstellungen ihrer Tante. Ich wollte sie nicht weiter bloßstellen.
    Ein wenig später kam Gerda mit einem offenen Kästchen zurück. Sie hielt es weit von sich weg und beäugte seinen Inhalt voller Argwohn.
    »Sag mal, das ist doch ein Männerhandschuh, oder?«
    »Ja.«
    Sie setzte sich und dachte nach, was ihr offensichtlich Mühe bereitete.
    »Dann hat sie also einen Mann gekannt?«
    »Einen Männerhandschuh«, versicherte ich milde.
    Sie lächelte, hatte verstanden, was ich meinte.
    »Ja, das sehe ich.«
    »Eine züchtige Begegnung auf einem Ball. Der Rest ist wahrscheinlich nichts als Einbildung. Der perfekte Unbekannte, dem sie diesen Handschuh entwendete, ohne dass er überhaupt wusste, wie ihm geschah … Das ist es, was ich glaube, Gerda.«
    »Ich auch, sofort.«
    Ich hob den Kopf und griff nach einem Buch, das gut sichtbar im Regal stand.
    »Die Fabel da, liegt doch auf der Hand, woher sie das alles hat.«
    Ich schlug eine erlesene Ausgabe der Märchen von Charles Perrault auf. Hier, das ist es: Aschenputtel. Als Aschenputtel den Ball verlässt, lässt sie einen Schuh zurück. Der Prinz nimmt den Schuh und macht sich mit diesem Indiz auf die Suche nach seiner Tanzpartnerin.«
    Ich nahm den Handschuh.
    »Hier, der Handschuh des Prinzen, er steht für den Schuh von Aschenputtel.«
    »Meine arme Tante. Wundert mich nicht, dass ihre Lieben nichts als Märchen waren. Die Wirklichkeit war einfach zu hart für sie, zu heftig. Tante Emma war nicht nur behindert, sie war auch gestört. Eine Träumerin, zeitlebens, ich sag’s dir.«
    Ich nickte.
    »So, Spaß beiseite«, beschied sie, »ich werd ihren Letzten Willen respektieren. Wo er auch her sein mag, dieser Handschuh, sie soll ihn haben.«
    »Ich komme mit Ihnen.«
    Wir betraten das Sterbezimmer, die Stille war beeindruckend, und ich muss gestehen, dass mich Rührung überkam, als ich der alten Dame diesen Handschuh, diesen Träger eines Traumes, in die Hände auf ihrem

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