Die Träumerin von Ostende
einem papierenen Mundschutz unter dem Kinn, schien beunruhigt. Nachdem er einige Male mit seinen Assistenten getuschelt hatte, zog er sich mit der gesamten Mannschaft zur Beratung zurück, da er, wie auch andere Kapazitäten in der Salpêtrière, besser mit Krankheiten umgehen konnte als mit Patienten.
Stéphanie folgte der Gruppe. Als man die Testergebnisse durchsprach, vernahm sie voller Entsetzen, wie ernst Karls Zustand war. Nach mehreren Wochen Krankenhausaufenthalt schätzten die Ärzte Karls Überlebenschancen nicht viel höher ein als zum Zeitpunkt seiner Einlieferung. Alle Hoffnung richtete sich jetzt auf die Operationen, die Professor Belfort in Kürze vornehmen wollte.
Stéphanie empfand nicht nur Schmerz, sondern auch tiefe Scham. In diesem Zimmer 221, in das sie Tag für Tag eilte, um dort höchst magische Momente zu erfahren, durchlebte Karl seine schlimmsten Augenblicke, vielleicht seine letzten. An sein Bett gefesselt, den Körper an Gummischläuche und Infusionsbeutel angeschlossen, allein in einem winzigen Raum, auf Gedeih und Verderb Assistenzärzten und Medizinstudenten ausgeliefert, die analysierten und kommentierten, war er seiner Freiheit beraubt, tat nichts mehr, erlebte nichts mehr, überlebte einzig mit Hilfe von Apparaten. Wie hatte sie so nur egoistisch sein können? Sie fand sich monströs, so unreif, eitel und kokett wie Karls Geliebte.
Um sich zu bestrafen, verzichtete sie an diesem Tag darauf, ihn zu besuchen, und sorgte dafür, dass sich statt ihrer jemand anders um ihn kümmerte.
Als Stéphanie am Dienstag wieder zu Karl kam, fand sie ihn sehr schwach. Schlief er? Sie trat näher und beugte sich über sein Gesicht, aber seine Nasenflügel zeigten keinerlei Reaktion. Schließlich flüsterte sie:
»Karl, ich bin’s, Stéphanie.«
»Ah, endlich …«
Seine Stimme kam von weither und zitterte vor Erregung. Er machte einen mitgenommenen Eindruck.
»Vier Tage ohne Sie, das ist zu lang.«
Obgleich er sie nicht sehen konnte, wandte er sich ihr zu.
»Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht. Ich habe auf Sie gewartet.«
»Jeden Tag?«
»Jede Stunde.«
Er klang ernst, aufrichtig. Sie begann zu weinen.
»Verzeihen Sie mir. Ich gehe nicht wieder weg von Ihnen.«
»Danke.«
Sie wusste, dass dieser absurde Dialog alles andere als professionell war: Sie durfte solche Versprechen nicht machen, und ein Patient durfte sie nicht einfordern. Allerdings dachte sie darüber nach, was sie eigentlich verband. Auch wenn man nicht sagen konnte, dass sie sich liebten, so konnte man zumindest annehmen, dass sie einander brauchten.
»Tun Sie mir einen Gefallen, Stéphanie.«
»Ja, Karl, was möchten Sie?«
»Nehmen Sie einen Spiegel und beschreiben Sie mir Ihre Augen.«
»Was für eine dumme Idee«, dachte sie bedauernd, »ich habe ja nur ganz gewöhnliche braune Augen.« Er hätte lieber ihre Mutter fragen sollen, die so stolz auf ihre blauen Augen war.
Stéphanie holte einen runden Vergrößerungsspiegel, setzte sich an sein Bett und betrachtete ihr Spiegelbild.
»Das Weiße in meinen Augen ist sehr weiß.«
»So wie Eiweiß?«
»Eher wie ein Emailweiß, es sieht tief aus, dickflüssig, wie eine Creme, die sich auf dem Herd verfestigt hat.«
»Sehr gut. Und weiter …«
»Ein schwarzer, leicht gekrümmter Rand grenzt die Iris ein und hebt die Farbnuancen hervor.«
»Ah … erzählen Sie schon.«
»Da gibt es Braun, Schwarzbraun, Beige, Gelbrot, Rot und hin und wieder ein Tüpfelchen Grün. Es ist alles viel farbiger, als man denkt.«
»Gott ist in den Details. Und die Pupillen?«
»Sehr schwarz, sie reagieren sehr stark. Werden rund, ziehen sich zusammen, erstarren und weiten sich. Sehr geschwätzig, diese Pupillen, sehr expressiv.«
»Phantastisch … Und jetzt Ihre Augenlider.«
Das Spiel ging weiter. Wimpern, Augenbrauen, Haaransatz, Ohrläppchen … Vom Blick eines Blinden geführt, entdeckte Stéphanie die unendliche Vielfalt der sichtbaren Welt, den ungeahnten Reichtum ihres Körpers.
Im Umkleideraum, sie war schon im Gehen begriffen, bemerkte sie vor ihrem Spind einen in elegantes blassgrünes Papier eingeschlagenen Strauß rosa- und malvenfarbener Pfingstrosen. Sie hob ihn auf, um ihn am Empfang abzugeben, da sie nicht eine Sekunde lang dachte, er könnte für sie sein, als eine Karte herausfiel, auf der in kunstvoller Schrift geschrieben stand: »Für Stéphanie, die wunderbarste aller Krankenschwestern«.
Wer verehrte sie so? Sie wühlte in dem Seidenpapier,
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