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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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in das der Strauß eingeschlagen war, tastete die Blüten ab, suchte zwischen den Stielen – vergeblich: Sie fand weder eine Unterschrift noch sonst einen Hinweis.
    Zu Hause stellte sie das Geschenk, überzeugt, dass es von Karl war, ihrem Bett gegenüber in eine Vase, damit sie es betrachten konnte.
     
    Am nächsten Tag erwartete sie bereits im Morgengrauen ein neuer Strauß vor ihrem Spind – wieder Pfingstrosen, doch diesmal gelb und rot. Die gleichen galanten Zeilen. Die gleiche Zurückhaltung vonseiten des Absenders.
    Stéphanie begab sich umgehend nach oben in Zimmer 221, und während sie sich mit Karl unterhielt, versuchte sie herauszufinden, ob er tatsächlich der generöse Absender war. Da nichts in seinen Worten darauf schließen ließ, fragte sie unvermittelt:
    »Sind Sie derjenige, bei dem ich mich für den Strauß gestern und heute bedanken muss?«
    »Es tut mir leid, aber auf die Idee bin ich nicht gekommen. Nein, ich war es nicht.«
    »Sie schwören es?«
    »Zu meiner großen Schande.«
    »Aber wer dann?«
    »Was? Sie haben keine Vorstellung, wer Ihnen den Hof machen könnte?«
    »Nicht die geringste.«
    »Frauen sind verrückt! Man muss ihnen erst mühsam die Augen öffnen, damit sie uns sehen … Zum Glück für die Männer hat die Natur Blumen erfunden …«
    Stéphanie schmollte, eher verstimmt als erfreut, zumal sie weiter mit Geschenken bedacht wurde: Jeden Tag lag ein neues Blumengebinde vor ihrem Spind.
    Was wiederum dazu führte, dass Stéphanie unweigerlich ihre Augen aufmachte, sich die Männer an ihrem Arbeitsplatz in der Salpêtrière näher besah und erstaunt feststellte, dass viele ihr zulächelten.
    Anfangs war sie erschrocken. Was? Sie war von so vielen Verführern umgeben, so vielen Männern, die sie ansahen, wie man eine Frau ansieht? Hatte sie diese Männer vorher etwa nicht bemerkt? Oder bemerkten diese Männer sie erst seit der Geschichte mit Karl? Erschüttert, nahezu schockiert, wusste sie zunächst nicht recht, ob sie sich weiter wie früher verhalten sollte – gesenkten Hauptes umhergehen, fremden Blicken ausweichen, zurückhaltend lächeln – oder doch lieber wie jetzt, zugewandt und entspannt, und auf diese Weise, wo auch immer sie hinging, über Blicke oder einen kleinen Schwatz auf vielfältige Weise mit anderen in Kontakt kam.
    So sah sie dann auch in einer Gruppe von Sanitätern Raphaels Gesicht. Es ist schwierig zu sagen, was genau ihr zunächst auffiel: der brennende Blick des jungen Mannes oder die Pfingstrose, die er an seinem Kittel trug. Stephanie zuckte zusammen, sie begriff, dass dies ein Zeichen war und sie ihren namenlosen Verehrer gefunden hatte.
    Sie verlangsamte ihren Schritt, schlug die Augen nieder, suchte vergeblich nach Worten, doch dann kamen ihr Zweifel, wahrscheinlich war alles nur ein Missverständnis, und so ging sie wieder schneller, lief davon.
    Doch Raphael lief ihr immer wieder mit seinen Kollegen über den Weg; und wenn sie sich flüchtig ansahen, ging es ihr jedes Mal durch und durch.
    Was tun? Wie sich verhalten? Stéphanie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, zumal sie von dem jungen Mann nichts erwartete, er war ihr lästig. Konnte sie zu ihm gehen und ihm sagen: »Danke, aber jetzt ist es genug«?
    Auf dem Weg zur Kantine erklärte ihr Marie-Thérèse, wie sie die Sache sah.
    »Also, wenn du mich fragst, dieser Sanitäter, dieser Raphael, der verschlingt dich förmlich mit seinen Blicken.«
    »Ach, wirklich? Er ist gar nicht mal so übel …«
    »Machst du Witze? Er ist der hübscheste Kerl im ganzen Krankenhaus. Hat Wimpern wie eine ägyptische Prinzessin, so lang. Wir alle sind verrückt nach ihm. Wenn du ihn kriegst, werden wir grün vor Neid.«
    »Ich? Wieso ich?«
    »Die Blumen! Das weiß doch jeder inzwischen, Schätzchen. Er ist total verrückt nach dir.«
    »Findest du ihn nicht zu jung?«
    »Zu jung für wen? Er ist so alt wie du.«
    Marie-Thérèse hatte recht. Seit Stéphanie entdeckt hatte, dass sie auf Karl, einen Mann von vierzig, durchaus verführerisch wirken konnte, hielt sie sich automatisch für älter, rechnete sich den Vierzigjährigen zu und hatte es daher zunächst auch für gewagt, ja, sogar anstößig gehalten, auf die Avancen eines jungen Mannes einzugehen.
    Die Woche war hektisch. Stéphanie verbrachte nicht zu viel Zeit bei Karl, der sich einer weiteren Operation unterzogen hatte und rasch ermüdete; zudem hatte sie zufällig mitbekommen, wie er sich in Gegenwart anderer Krankenschwestern

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