Die Träumerin von Ostende
verhielt, und begriff, dass er, wenn sie bei ihm war, sämtliche Kräfte mobilisierte, um einen witzigen, geistreichen und verwirrenden Eindruck zu hinterlassen, und sich dabei überanstrengte. Außerdem fürchtete sie, Raphael auf den Fluren in die Arme zu laufen.
Obgleich sie freihatte, ging Stéphanie am folgenden Wochenende ins Krankenhaus. Sie zog ihre schönsten Sachen an, überzeugt davon, dass Karl dies wahrnehmen würde. Sie ging sogar so weit, ihre kürzlich erstandene Spitzenunterwäsche einzuweihen. Als sie jedoch einige der ehemaligen Geliebten im Wartezimmer entdeckte, machte sie auf dem Absatz kehrt, tauschte ihre indische Seidenbluse und ihren Jerseyrock gegen den vorgeschriebenen Kittel mit Hose aus und begab sich anschließend als Krankenschwester wieder nach oben.
Ihren verblüfften Kollegen erklärte sie, sie würde gegenüber, in der Abteilung für Augenheilkunde, Überstunden machen, und schlüpfte in einem unbeobachteten Moment rasch in Zimmer 221. Die letzte Geliebte war gerade gegangen, und Karl kam auf sie zu sprechen.
»Haben Sie bemerkt? Meine Besucherinnen werden von Woche zu Woche weniger. Solange ich gesund war und es mir gutging, sie über mich lachen konnten und ihren Spaß mit mir hatten, war ich ihnen wichtig.«
»Nehmen Sie ihnen das übel?«
»Nein. Zweifellos haben sie mir gefallen, weil sie sind, wie sie sind, nämlich gierig, darauf aus zu erobern, zu verführen und zu leben.«
»Wie viele sind denn heute gekommen?«
»Zwei. Nächste Woche ist es bestimmt nur noch eine. Sie haben sich arrangiert, sie, die sich nicht ausstehen können. Um auf dem Laufenden zu bleiben und mich so selten wie möglich besuchen zu müssen, wechseln sie sich jetzt ab. Lustig, was? Im Grunde können sie es kaum noch abwarten, sie wollen mich unbedingt beweinen, sie werden umwerfend sein auf meiner Beerdigung. Und aufrichtig. Doch, doch, wirklich.«
»Sagen Sie so etwas nicht, Sie werden wieder gesund! Wir werden kämpfen, gemeinsam, damit Sie wieder auf die Beine kommen.«
»Daran glauben meine Geliebten nicht …«
»Ich möchte mich über diese Frauen nicht einmal lustig machen. Es muss nicht schwer sein, sich in Sie zu verlieben: Sie sind so schön.«
»Männliche Schönheit allein ist wertlos. Nicht Schönheit macht einen Mann attraktiv, sondern dass er eine Frau davon überzeugen kann, dass sie an seiner Seite schön ist.«
»Blablabla!«
»Schönheit ist wertlos, ich sage es Ihnen. Ein perfektes Äußeres ist ausgesprochen lästig, es steht einem nur im Weg.«
»Nun machen Sie aber einen Punkt!«
»Also gut, passen Sie auf: Sie halten mich für gutaussehend, was empfinden Sie dabei? Vertrauen oder Misstrauen?«
»Verlangen.«
»Danke. Und jetzt seien Sie ehrlich: Vertrauen oder Misstrauen?«
»Misstrauen.«
»Da haben wir’s. Erstes Misstrauen: Die Leute glauben, dass ein gutaussehender Mann nicht aufrichtig ist. Zweites Misstrauen: Ein gutaussehender Mann weckt Eifersucht. Ich habe immer nur eifersüchtige Frauen gekannt.«
»Hatten sie Grund dazu?«
»Bei der ersten Eifersuchtsszene, ja. Dann aber nicht mehr. Da sie mich verdächtigten, noch bevor ich etwas getan hatte, sah ich mich gezwungen, Ihnen durch mein Verhalten recht zu geben.«
Sie lachten, entspannt.
»Ich werde Ihnen erklären, warum man nie eifersüchtig sein sollte, Stéphanie. Wenn Sie zu jemandem eine besondere Beziehung herstellen, ist diese Beziehung nicht austauschbar. Oder glauben Sie etwa, ich könnte ein Gespräch, wie wir es im Augenblick führen, mit jemand anderem haben?«
»Nein.«
»Also müssen Sie einsehen, dass es in unserer Beziehung für Sie keine Rivalin gibt.«
Sie lächelte, näherte ihre Lippen den seinen und flüsterte:
»Vielleicht keine Rivalin, aber einen Rivalen.«
Er erschauderte.
»Wen?«
»Den Tod. Er könnte mir eines Tages dieses Einzigartige nehmen, das ich mit Ihnen erlebe.«
»Dann verabscheuen Sie den Tod also?«
»Warum bin ich wohl Krankenschwester? Warum glauben Sie, kümmere ich mich so um Sie? Ich möchte Ihnen helfen, wieder gesund zu werden.«
Sie schwiegen eine ganze Weile, einander sehr nah. Dann küsste Stéphanie ihn hastig und eilte davon.
Am Montagmorgen wartete im Umkleideraum kein Blumenstrauß auf Stéphanie, sondern Raphael. Mit der verwegenen Kühnheit der Schüchternen in den Augen hielt er ihr unbeholfen einen Rosenstrauß hin.
»Guten Tag, ich heiße Raphael.«
»Ich weiß.«
»Ich bin derjenige, der … seit … Sie wissen
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