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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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und amüsierte sich über die Szene, die er soeben erfunden hatte. Der gute alte Chris Black, im Grunde konnte einem dieser Typ leidtun.
    Und dann trat ein, was er befürchtet hatte: Sylvie wollte ihm unbedingt ihre Freundinnen vorstellen.
    »Komm mal, Maurice, über sie hab ich dieses Haus gefunden. Grace, Audrey und Sofia wohnen ganz in unserer Nähe, nur drei Kilometer entfernt. Wir könnten uns doch mal treffen.«
    Maurice stammelte ein paar freundlich klingende Worte, während er sich fragte, warum das Parlament kein Gesetz verabschiedete, dass fetten Frauen so schöne Namen wie Grace, Audrey und Sofia untersagte. Dann verabredete man sich auf eine Orangeade, ein Boulespiel, einen Spaziergang in der Natur und ging mit einem emphatischen »Bis bald!« auseinander.
     
    Auf der Fahrt zurück zu ihrem Landhaus konnte Maurice, während die karge Landschaft hinter den Fenstern seines Wagens vorüberzog, nicht umhin, an
Das Zimmer der dunklen Geheimnisse
 – was für ein schwachsinniger Titel – zu denken; ein Detail hatte seine Neugierde geweckt. Was war das für ein Manuskript aus dem 16. Jahrhundert, um das es in diesem Buch ging? Es musste dieses Werk geben, zumal es den amerikanischen Romanschreibern, wie seine Kollegen versicherten, ja immer an Phantasie fehlte. Eine alchemistische Abhandlung? Eine Denkschrift der Tempelritter? Ein schändlicher Stammbaum? Ein verlorengeglaubter Text von Aristoteles? Gegen seinen Willen spielte Maurice alle Möglichkeiten durch. Am Ende war dieser Chris Black, oder wer auch immer sich hinter diesem Pseudonym verbarg, nicht einmal eine an grenzenloser Selbstüberschätzung leidende Pestbeule, sondern ein seriöser Forscher, ein Gelehrter, einer dieser unterbezahlten, brillanten Akademiker, wie sie die Vereinigten Staaten hervorbrachten … Warum nicht einer wie er, Maurice Plisson? Dieser ehrenwerte Homme de lettres hatte sich gewiss nur bereitgefunden, einen solchen Schund zu produzieren, um seine Schulden zu begleichen und seine Familie zu ernähren. Vielleicht war ja nicht alles schlecht in diesem Buch …
    Da jedoch allzu viel Nachsicht von Übel ist, beschloss Maurice, sich mit ernsthafteren Angelegenheiten zu befassen. Und so kam es denn auch, dass er, als er die Einkäufe aus dem Kofferraum lud, das Buch beinah ungewollt an sich nahm und auf dem Weg zur Speisekammer innerhalb von drei Sekunden in einem Schirmständer aus Porzellan verschwinden ließ.
    Sylvie, die in der Küche mit Einräumen und der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt war, bemerkte von alledem nichts. Damit sie nicht etwa auf dumme Gedanken kam, schlug ihr Maurice sogar vor, gemeinsam fernzusehen, stellte jedoch klar, dass er, wie gewohnt, früh zu Bett gehen würde.
    »Wenn ich sie vor die Mattscheibe setze, wird sie nicht mehr ans Lesen denken und bis zum letzten Wetterbericht in ihrem Sessel klebenbleiben.«
    Sein Plan sollte aufgehen. Entzückt, dass ihr Cousin für so einfache Freuden wie einen Abend vor dem Fernseher zu haben war, verkündete Sylvie, dass diese Ferien wunderbar würden und sie gut daran getan hätten, dieses Jahr zur Abwechslung einmal nicht so weit zu reisen.
    Nach einer halben Stunde Film, von dem Maurice nichts mitbekam, gähnte er ostentativ und verkündete, er würde sich jetzt hinlegen.
    »Bleib nur sitzen, den Ton kannst du ruhig so laut lassen, ich bin dermaßen müde von der Reise, dass ich bestimmt gleich einschlafe. Gute Nacht, Sylvie.«
    »Gute Nacht, Maurice.«
    Auf dem Weg durch die Eingangshalle fischte er das Buch aus dem Schirmständer, steckte es unter sein Hemd und ging rasch hoch in sein Zimmer, erledigte zügig seine Toilette, verschloss die Tür und schlüpfte mit
Das Zimmer der dunklen Geheimnisse
ins Bett.
    »Ich will nur herausfinden, was es mit diesem Manuskript aus dem 16. Jahrhundert auf sich hat.«
    Zwanzig Minuten später war daran nicht mehr zu denken; die kritische Distanz, die er diesem Text gegenüber einhalten wollte, war nach wenigen Seiten dahin; kaum hatte er das erste Kapitel beendet, nahm er sich atemlos das zweite vor; sein Sarkasmus schmolz beim Lesen dahin wie Zucker im Wasser.
    Zu seiner großen Überraschung erfuhr er, dass Eva Simplon, die Heldin und Agentin des FBI , Lesbierin war; er war davon so beeindruckt, dass er die Taten und Gedanken, die der Autor seiner Protagonistin zuschrieb, nicht weiter in Zweifel ziehen konnte. Zudem marginalisierte ihre Sexualität diese schöne Frau in einem Maße, dass Maurice sich an sein

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