Die Trantüten von Panem
Weile fällt er der Länge nach zu Boden, und ich sehe das Messer, das aus seinem Rücken ragt. Wenn ich es mir recht überlege, würde ich auch auf meinen Rucksack verzichten, wenn ich ein Messer wie er hätte.
Ich blicke auf und sehe in etwa fünf Metern Entfernung ein Mädchen. Sie trägt einen Gürtel voller Messer. Wie kommt’s, dass alle Messer haben, nur ich nicht? Vielleicht kann ich ja meine Spraydose gegen eines eintauschen. Doch ehe ich sie fragen kann, wirft sie mir eines von ihren vielen Messern zu. Wirklich nett von ihr. Es saust knapp an meinem Kopf vorbei und verschwindet im Wald. Zum Dank werfe ich ihr die Handgranate zu, die zu meinen Füßen liegt, behalte aber den Sicherungsstift für meine Sammlung. Ich lächele, als ich auf die Bäume zulaufe und kann noch hören, wie sie » Neeeeeiin …! « schreit. Doch doch, es macht mir wirklich nichts aus, das Messer aus dem Wald zu holen. Ich finde es toll, so leicht eine neue Freundschaft geknüpft zu haben, und drehe mich um, damit ich ihr danken kann, sehe aber nur noch ein Bein und ganz viel Blut. Hm … Was wohl aus ihr geworden ist? Hat sie sich schon aus dem Staub gemacht? Diese Hungerspiele sind unglaublich verwirrend.
Ich sollte mich jetzt wirklich im Wald verstecken, will mir aber noch ein letztes Mal das Schlachtfeld um das Prollhorn ansehen. Die Leichen der bereits toten Tribute wurden noch nicht eingesammelt. Die Jury wartet normalerweise, bis das Blutbad zu Ende ist, damit die übrig gebliebenen Tribute noch einmal eine Slapstick-Einlage bieten können, indem sie über die Leichen stolpern. Ganz Panem sieht es nur zu gerne, wenn man auf den Allerwertesten fällt.
Nur wenige lebende Tribute haben sich entschieden, auf dem Schlachtfeld zu bleiben. Die beiden aus dem Theater-Distrikt platzieren die Leichen getreu nach einem Bühnenbild von Les Misérables , und der Junge aus dem Distrikt für moralische Skrupel trägt einen inneren Gewissenskonflikt aus, ob er einem Tribut mit einer achtzigprozentigen oder vier anderen mit je einer zwanzigprozentigen Überlebenschance helfen soll. Ich suche nach Pita, kann ihn aber nirgendwo finden. Vielleicht lebt er ja noch oder hat ein so cooles Ende gefunden, dass er noch nicht einmal einen Körper zurückgelassen hat.
Als ich mich umdrehe, um endlich zu verschwinden, knackt es in den Lautsprechern. BAWOMM BAWOMM . Das ist die traurige Posaune, die den Tod eines Tributs verkündet. Die Posaunen warten, bis das anfängliche Gemetzel vorüber ist, damit die Posaunisten morgens noch etwas länger im Bett bleiben können. BAWOMM BAWOMM. BAWOMM BAWOMM. BAWOMM BAWOMM.
Ich zähle elf traurige Posaunentöne, ehe die Instrumente verstummen. Wenn für jeden toten Tributen einmal geblasen wird und wir zu Beginn vierundzwanzig Tribute waren, der Tag vierundzwanzig Stunden hat, die Spiele noch keine Stunde im Gange sind, jede Stunde sechzig Minuten hat und es zwei Stunden dauerte, bis ich zu diesem Punkt meiner mathematischen Gleichung gekommen bin, dann sind noch mindestens vierzig Tribute übrig! Die Hungerspiele werden immer härter.
Als ich mich endlich in den Wald aufmache, merke ich, dass ich bald etwas zu trinken brauche. In meinem Rucksack sind lediglich Salzstangen und ein Stück Rührkuchen, den ich sofort verputzt habe, um nicht so viel tragen zu müssen. Ich stelle mir das Gourmet-Root-Beer und die fantastischen Limos im Kapital vor und falle beinahe in den Bach, dessen Verlauf ich folge. Edelkitsch, warum schickst du mir nichts? Hasst du mich? Ist es das? Oder … Oder vielleicht weiß er ja auch, dass ich kurz davor bin, etwas zu finden, das ich unbedingt brauche. Um Himmelswillen! Der Bach! Ich kann das Wasser benutzen, um Root-Beer zu brauen!
Ich schlage mein Lager neben dem Bach auf und baue einen rudimentären Destillationsapparat aus Steinen und Ästen. Jetzt, da ich Wasser habe, brauche ich nur noch Sassafraswurzel, Nelken, Honig, Zimt, Vanille, Kirschbaumrinde und die anderen vierundzwanzig Aromen. Allein bei dem Gedanken an mein selbst gemachtes Root-Beer läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Aber die Sonne geht bereits unter, und ich muss mich ausruhen – ich brauche schließlich meinen Schönheitsschlaf. Ich tarne also den Destillationsapparat mit Laub und klettere auf einen Baum, um zu schlafen. In etwa zehn Metern Höhe binde ich meinen Gürtel erst um einen Ast und dann um mein Genick, sodass ich nicht mit der Scham leben muss, wenn ich während der Nacht aus Versehen
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