Die Treibjagd
die Miene eines Mannes, der über die Lösung eines furchtbaren Problems nachdenkt, däuchte ihr nunmehr unerklärlich,
Aristide befolgte die Nachschläge Eugens: er hörte und sah. Als er sich bei seinem Bruder einfand, um ihm für seine Beförderung zu danken, erkannte jener den Umschwung, der sich in ihm vollzogen und er unterließ es nicht, ihn darob zu beglückwünschen. Der Beamte, den innerlich der Neid verzehrte, war schmiegsam und schmeichlerisch geworden. Binnen weniger Monate wurde er ein vollendeter Komödiant. Seine ganze südliche Schlauheit gelangte zur Geltung und er trieb die Kunst so weit, daß ihn seine Kollegen vom Stadthause für einen guten Jungen ansahen, dem die nahe Verwandtschaft mit einem Deputirten im vorhinein eine bedeutende Stellung sicherte. Diese Verwandtschaft zog ihm auch das Wohlwollen seiner Vorgesetzten zu. So genoß er denn eine Autorität, welche die Bedeutung seines Amtes überragte und ihm gestattete, gewisse Thüren zu öffnen und die Nase in gewisse Schriftstücke zu stecken, ohne daß diese Zudringlichkeit eine üble Auslegung erfahren hätte. Während zweier Jahre sah man ihn durch alle Korridore streichen, sich in allen Sälen aufhalten, tagsüber zwanzigmal aufstehen, um mit einem Kollegen zu plaudern, eine Meldung zu erstatten oder einen Gang durch die Bureaux zu machen, – Spaziergänge, die seine Arbeitsgenossen zu der Bemerkung veranlaßten: »Dieser verteufelte Provençale! Er kann nicht ruhig auf seinem Platze bleiben; der hat Quecksilber in den Beinen!« – In den Augen seiner Vertrauten galt er für einen Faullenzer und der würdige Mann lachte, wenn sie ihm den Vorwurf machten, sein Lebenszweck bestehe darin, der Verwaltung einige Minuten zu stehlen. Niemals beging er den Mißgriff, an den Thüren zu horchen; dagegen verstand er es so trefflich, unversehens die Thüren zu öffnen, mit einem Papier in der Hand, mit nachdenklicher Miene und so leisen, regelmäßigen Schrittes durch die Säle zu schreiten, daß ihm kein Wort der Unterhaltung entging. Dies war eine geniale Taktik und er brachte es so weit, daß man die Unterhaltung gar nicht mehr abbrach, wenn dieser pflichteifrige Beamte vorüberging, der sich stets im Schatten der Bureaux hielt und vollständig seiner Beschäftigung hingegeben schien. Ferner beobachtete er noch eine andere Methode; er war von der verbindlichsten Zuvorkommenheit, machte sich erbötig, seinen Kollegen zu helfen, wenn sie mit ihren Arbeiten im Rückstande waren und stets studierte er mit der größten Aufmerksamkeit die Register und sonstigen Schriftstücke, die sie ihm übergaben. Eine seiner kleinen Sünden war, mit den Bureaudienern Freundschaft zu schließen; ja, er ging so weit, ihnen die Hand zu reichen. Zwischen Thür und Angel stehend, ließ er sich mit ihnen in Gespräche ein, lachte mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten und forderte derart ihre vertraulichen Mittheilungen heraus. Die wackeren Leute beteten ihn an, indem sie sagten: »Das ist Einer, der keinen Stolz kennt!« Gab es irgend einen Skandal, so war er der Erste, der davon Kenntniß erhielt. Und so kam es, daß das ganze Stadthaus nach kaum zwei Jahren keinerlei Geheimnisse mehr für ihn hatte. Das Personal desselben kannte er bis zum letzten Lampenanzünder und die Schriftstücke bis zu den Rechnungen der Wäscherinen.
Für einen Mann wie Aristide Saccard bot Paris zu dieser Zeit ein überaus interessantes Schauspiel. Das Kaiserreich war eben erst proklamirt worden, nach jener famosen Reise, während welcher der Prinz-Präsident den von Erfolg begleiteten Versuch gemacht hatte, den Enthusiasmus einiger bonapartistischer Departements anzufachen. In der Kammer und in den Zeitungen herrschte Ruhe. Die wieder einmal gerettete Gesellschaft beglückwünschte sich, ruhete aus, überließ sich einem Freudentaumel, denn eine kräftige Regierung beschützte sie und enthob sie der Nothwendigkeit, selbst zu denken und ihre Angelegenheiten zu ordnen. Die einzige große Sorge der Gesellschaft bestand darin, auf welche Weise man die Zeit ergötzlich todtschlagen solle. Wie sich Eugen Rougon so treffend ausgedrückt hatte, setzte sich Paris zu Tische und trieb beim Nachtisch flotte Späße. Die Politik verbreitete Schrecken, gleich einer gefährlichen Arznei. Die erschöpften Geister wendeten sich den Geschäften und den Vergnügungen zu. Wer etwas besaß, holte sein Geld hervor und wer nichts besaß, suchte in den Ecken nach vergessenen Schätzen. Es gab in der großen
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