Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
kam mir vor, als tappe ich neben einem gigantischen Glockenturm aus Stein einher. Er atmete stoßweise und ich spürte seinen Herzschlag über seinen festen Griff um meinen Ellbogen.
»Er war Autist«, hielt ich ihm vor.
David grunzte.
»Ihr Neffe. Er litt doch unter Autismus, nicht wahr?«
»Sie spinnen.«
»Haben Sie ihn deshalb umgebracht – weil er anders war, und Sie ihn nicht verstanden? Womöglich hat er Ihnen auch ein wenig Angst gemacht.«
»Sie wissen nicht, wovon Sie da sprechen.«
»Sie haben vielleicht die Bullen hinters Licht geführt, aber mich –«
Dentman zog meinen Arm zurück, kugelte mir fast die Schulter aus.
Ich strauchelte und verlor beinahe den Notizblock mitsamt den Fotos.
Er hielt mich nach wie vor am Arm fest, schwang mich herum, bis ich ihn unweigerlich anschauen musste. »Kein … Wort … mehr«, stieß er hervor.
Mein Kopf quoll über vor Dingen, die ich sagen könnte, doch keines war hart genug in diesem Moment.
Wir erklommen einen verschneiten Hügel und schlitterten durch ein Wäldchen mit verschlungenen Baumkronen, die den Mond fast gänzlich verdeckten. Ich blieb nur einmal stehen, um mir meines Verhängnisses klar zu werden, doch David schleifte mich weiter und ich stolperte ihm nach. Wir passierten eine lichte Baumgruppe, die sich in eine weite Lichtung öffnete, deren Boden mit Nebel bedeckt war. Ich war überrascht (und erleichtert), Lichter vor uns zu sehen. Wir standen vor einem, früher einmal bestimmt zehn Fuß hohen, Schmiedeeisenzaun. Hinter dem Zaun, halbmondartige Grabsteine, wie Rückenflossen auf dem schwarzen Rasen.
Ein Friedhof.
»Weiter«, drängte Dentman. Er ließ meinen Arm los und bewegte sich auf den Zaun zu.
Eine Weile sah ich ihm nach, wie er voranging – sein enormer Schädel pendelte wie bei einer kaputten Spielzeugpuppe –, dann folgte ich. Wir erreichten einen schmalen Kiesweg, der sich durch eine Öffnung im Friedhofstor wand. Dentman trat hindurch, ohne auf mich zu warten, und bewegte sich die leichte Anhöhe zwischen den Gräbern hinauf, vorbei an Granitkreuzen, die wie Meilensteine aussahen.
Ich ging dem schwerfälligen Koloss hinterher, da ich weniger Sorgen um meine Unbescholtenheit verspürte als Neugierde – Neugierde und Endgültigkeit. Ich überquerte den Friedhofsrasen, die anhaltende Kälte forderte schlussendlich ihren Tribut. Ich hatte einen üblen Geschmack im Mund und atmete schwer, ich spürte den Puls an meinen Unterarmen. Wir passierten ein imposantes Mausoleum sowie mehrere Grabmarkierungen, die Engeln und Sternen nachempfunden waren. Ich versuchte aufzuschließen und eilte einen leichten Hang hinunter. Am anderen Ende des Friedhofs unter einer hohen Eiche sah ich ihn stehen bleiben. Er lehnte halb am schmiedeeisernen Zaun und schaute auf die Erde. Hätte ich es nicht besser gewusst, könnte ich glauben, er habe mich vergessen.
Andächtig näherte ich mich. Ein kräftiger Wind ließ die kahlen Äste der Eiche knarren. Vor uns standen zwei Grabsteine mit jeweils einem Namen darauf.
Am ersten:
BERNARD DENTMAN
Am zweiten:
ELIJAH DENTMAN
GELIEBTER SOHN UND NEFFE
Beide mit entsprechenden Geburts- und Sterbedaten versehen.
»Ich mag nicht der klügste Mann sein, Glasgow. Ich schreibe weder Bücher, noch gehe ich mit Anzug und Krawatte zur Arbeit. Aber genauso wenig bin ich ein Idiot. Ich durchschaue Sie. Ihresgleichen denkt, sie kommen mit allem durch, mit jeder verfluchten Sache, die sie wollen. Jeder verfluchten Sache in der Welt. Sie denken, das ganze beschissene Universum zerbrösle einfach zu Staub, sobald Sie nicht mehr da sind, um es zusammenzuhalten.«
»Das tue ich nicht.«
»Bullshit. Wissen Sie, über mich haben Sie Nachforschungen angestellt, aber dass ich das Gleiche mit Ihnen getan habe, ist Ihnen entgangen.« Er machte einen Satz auf mich zu, dass ich erschrocken aufkeuchte. Erneut drehte er mich um, dann betrachtete er den Grabstein aus hellem Granit, der noch nicht lange genug dastand, um von Schlingpflanzen und anderem Unkraut überwuchert zu sein. Geliebter Sohn und Neffe.
Ich fühlte einen Faustschlag auf meinem Rücken, zuckte vor Schmerz zusammen und ließ mein Notizbuch und die Tatortfotos fallen. Der Wind bekam die Fotos schneller zu fassen als ich und blies sie übers Friedhofsgelände.
»Sie knien auf dem Grab meines Neffen. Ich versuche, Ihnen ein bisschen Menschlichkeit einzubläuen, ein wenig Ehrfurcht. Mussten Sie jemals einen leeren Sarg begraben?«
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