Die Trüffelgöttinnen (German Edition)
ehrfürchtig fort, „ja, das ist unsere Befreiung! Wir dürfen endlich zunehmen und Falten bekommen. Er hat uns befreit! May, er ist ein Held!“
Erst viel später würde Melanie mit Hilfe von Gladys, der Putzfrau bei GMY!, realisieren, dass die vermeintliche Befreiung lediglich eine weitere Variante der bisherigen Hölle war. Von dieser Erkenntnis war sie vorerst aber noch weiter entfernt als der Mars von der Venus. Die Aussicht auf hemmungsloses Sichfallenlassen in alles, was bisher verboten war, auf Schwelgen und Genuss und auf das Feiern einer neuen und doch uralten Weiblichkeit war so berauschend, dass sie vorerst den Blick für alles andere, das diese Freude hätte trüben können, einschränkte. Und das war gut so, denn sonst hätte sie Glamour und die ständig anwachsende Schar unheilbar von seiner Philosophie Infizierter vermutlich ganz einfach für verrückt erklärt und den nächsten Flug nach Frankfurt genommen, um sich dort weiterhin mit Magerjoghurt, Mineralwasser und Sit-Ups zu kasteien, damit die Waage nie mehr als fünfzig Kilogramm zeigte.
So kam stattdessen nun fürs Erste ganz einfach die sinnenfreudigste, verrückteste und glücklichste Zeit ihres bisherigen Lebens auf sie zu.
* * *
Die Woche im Mermaid verging unter den kundigen Fingern von Madame Beauté wie im Flug. Bis auf die regelmäßigen Unterbrechungen, wenn Rachel sie mit dem obligatorischen Mermaid-Donut, einem mit Vanillesahne, Kirschen und Schokosplittern verzierten doppelstöckigen Prachtexemplar und ähnlichen Kalorienbomben fütterte wie eine fürsorgliche Henne ihr Küken, wurde geknetet, gedehnt, gerafft und gezerrt, was die gequälte Haut aushielt. Mit Hilfe von Glamours Aging-Creme und verschiedenen anderen hautunfreundlichen Produkten wurde die arme Haut so lange gereizt, bis sie schließlich kapitulierte, sich das Hautrelief vergröberte und sich langsam aber sicher feine Linien und Fältchen um Augen und Mund einzugraben begannen.
Die Zeit zwischen den Behandlungen verbrachte Melanie mit dem mehrfachen Studium von Mays Unterlagen und regelmäßigen Stimm-, Sprech- und Moderationsübungen vor dem Spiegel. Hauptsächlich aber war sie damit beschäftigt, mit Begeisterung die täglich bei ihr eintreffenden Videos von Glamours neuesten Auftritten und Interviews zu sichten und damit seine Philosophie immer tiefer in ihr Unbewusstes zu versenken, bis sie irgendwann selbst nicht mehr verstehen konnte, wie sie eigentlich all die Jahre die Schönheit von prallen Rundungen, in sanften Hügeln sich wölbendem Fleisch und von Gesichtern, die ihre Geschichten in Linien und Fältchen und Falten erzählten wie Scheherazade ihre verzaubernden Märchen aus Tausendundeinernacht, hatte übersehen können. Sie konnte sich das nicht anders erklären als mit der Suggestivwirkung, der eine Frau schon als Embryo, eingelullt durch das hypnotische Schaukeln des Fruchtwassers, ausgesetzt war, wenn die werdende Mutter vor Panik einen Schluckauf bekam, weil die Waage mehr anzeigte als der Arzt erlaubte.
Und dann der missbilligende Blick und das Nein - das ist Bäääh! Davon wird man d-i-c-k ! , die das kleine Mädchen nach dem Abstillen erntete, wenn es noch einen Löffel und noch einen von dem köstlich schmeckenden Grießbrei wollte.
Dick war also etwas ganz, ganz Schlimmes. Etwas Widerliches, Böses, Schlechtes und natürlich auch Hässliches. Man wollte nicht böse, schlecht oder hässlich sein, also achtete man sorgfältig darauf, dass man nicht dick wurde. Wer es nicht schaffte, wurde verspottet, geächtet und verachtet.
Melanie wurde traurig, wenn sie daran dachte, dass so schon mit den ersten Löffeln Grießbrei das in den Tiefen der Seele verankerte Wissen ausgetrieben wurde, dass ausgeprägte Rundungen und weich im Takt der Schritte sich wiegendes Fleisch nicht von Disziplinlosigkeit und Gier zeugten, sondern von Urweiblichkeit und Wärme, von Nähren und Geben und Empfangen. Wie gut, dass George Glamour die Menschen endlich wieder an dieses uralte Wissen erinnerte! Und sie selbst würde mit allen Kräften dafür sorgen, dass seine Botschaft sich immer weiter verbreitete, so viel war sicher!
Am Ende der Woche war Madame Beauté begeistert von den Veränderungen, die sich langsam in Melanies Gesicht abzuzeichnen begannen.
„ Schauen Sie, diese kleine Falte da“ , sie zeigte mit dem Stiel des Pinsels, mit dem sie gerade eine Kräuselmaske anrührte, auf eine Stelle an Melanies rechtem Mundwinkel, „die war gestern noch
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