Die Trüffelgöttinnen (German Edition)
so verrückt war, dass sie eigentlich niemand mit einigermaßen gesundem Menschenverstand hätte, glauben dürfen
Aber da sie gleichzeitig das zu beweisen schien, was die vom Schicksal in puncto Aussehen eher stiefmütterlich Behandelten im Grunde ihres Herzens schon immer so gerne glauben wollten, schaltete sich der Verstand ganz einfach aus wie ein leer gelaufener Handyakku und machte einer Flut von Glückshormonen Platz, wie sie sonst nur hundert Tafeln Schokolade auszulösen imstande waren.
* * *
George Glamour hatte die Stimme gesenkt, als spräche er ein Geheimnis aus, das die Welt zum Einstürzen bringen könnte.
„ Narziss hat sich in Wirklichkeit nicht in die Spiegelung seines jugendlich-glatten Antlitzes verliebt! Wie ich durch intensive, sehr aufwendige Studien herausgefunden habe, herrschte an dem Tag, an dem er sich in dem See spiegelte, eine kräftige Brise, die die Wasseroberfläche kräuselte, während Narziss hineinsah. Und so verliebte sich dieser Jüngling in Wirklichkeit nicht in den Anblick seines faltenlosen, jugendlichen Gesichts, sondern“, erneut eine wirkungsvolle Pause, in der das Publikum die Luft anhielt und sich erwartungsvoll nach vorne beugte, »in die Furchen und Kräusel und Linien und Polster, die er in der wegen des Windes bewegten Wasseroberfläche in seinem Antlitz sah. Narziss war der erste Mensch, der in einem Augenblick tiefster Erleuchtung die wahre Schönheit erkannte, nämlich die Schönheit von«, er blickte jetzt direkt in die Kamera, »Haut mit Charakter!“
Glamour schwieg, und nach einigen Sekunden geschockter Stille glaubte auch der letzte in den zum Bersten gefüllten Reihen und vor den Fernsehern die volle Bedeutung dieser Enthüllung begriffen zu haben: Man hatte sie in die Irre geführt, Jahre lang, Jahrzehnte lang, Jahrhunderte lang! Man hatte ihnen vorgespielt, Narziss habe sich geliebt wegen seiner Jugend, seiner glatten Haut und ihnen so ein Schönheitsideal eingeimpft, das an der Wirklichkeit völlig vorbeiging! Narziss musste sich wegen der Fehlinterpretation seiner Erkenntnis Jahrhunderte lang mehrmals täglich im Grab umgedreht haben.
Dass aber George Glamour selbstverständlich gar keine Erkenntnisse aus Studien über den Tag von Narziss’ kosmischem Liebestaumel durchgeführt haben konnte, weil die Sage von Narziss ja eben nichts anderes war als eine Sage, und es ihn insofern niemals wirklich gegeben hatte und ebenso wenig den See, den Wind und die sich kräuselnde Oberfläche, ging im Taumel der Befreiung aus Jahrhunderte langer vermeintlicher Knechtschaft völlig unter.
Sogar bei den Historikern, Psychologen und Universitätsprofessoren, die noch während der Sendung die Telefonleitungen, Faxgeräte und Mailboxen des Senders glühen ließen, um ihre Begeisterung über diese sensationelle Entdeckung mitzuteilen und Glamour dafür die Ehrendoktorwürde anzubieten, war diese Tatsache durch den Blick in Glamours hypnotische Augen völlig ausgelöscht worden. Narziss, die Sagenfigur, hatte nun für sie genau so existiert wie ein realer Mensch.
Glamour war von der Wirkung seiner Offenbarung selbst überrascht. Dass das ihm bereits verfallene Publikum diese verrückte Story ungeprüft glauben und ihn dafür feiern würde, hatte er geradezu vorausgesetzt. Dass ihm nun aber auch noch die Wissenschaft auf den Leim ging, war selbst ihm unverständlich.
Dessen ungeachtet nahm er aber in den nächsten Tagen selbstverständlich die Ehrendoktorwürden mehrerer in- und ausländischer Universitäten mit einem huldvollen Lächeln entgegen.
May starrte Melanie ungläubig mit offenem Mund an. George Glamour war ein Genie! Er hatte der Welt ein uraltes Wissen zurückgebracht. Nein – er hatte es überhaupt erst zugänglich gemacht!
Im Studio brach ein solcher Tumult los, dass sie das Konzept für diese erste Sendung ganz einfach fallen lassen und improvisieren mussten. Anstelle der geplanten Hotline, der Expertentipps und der weiteren Programmpunkte ließen sie das nicht mehr zu bremsende Publikum einfach gewähren und George Glamour umringen, umarmen und vor ihm auf die Knie fallen, und diese Bilder gingen noch am selben Abend durch die Welt und wurden kommentiert wie die Bilder des Papstes, wenn er nach jeder Ankunft in einem fremden Land die Erde küsste. Danach würden sie noch einmal die Dessousshow starten, und dann war die Sendung auch schon vorbei.
Während im Studio noch die Hölle los war, schüttelte Gladys hinter den Kulissen nur
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