Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
waren die, die sich dieser Tage mit Mistgabeln und Einreißhaken und allem möglichen Zeug bewaffnet über Kaufherren und deren Geschäfte hermachten. Caspar war einer jener, die bis vor einem halben Jahr noch hungernd und frierend, halb irr vor Hustenanfällen den Winter ausgesessen hatten. Er war einer von denen, die bis vor sechs Monaten noch den eigenen Arsch verkauft hätten für etwas zu essen, und das, obwohl sie schon das Letzte gegeben hatten, und das, obwohl sie die besten Weber am Ort waren, und das, obwohl sie noch am meisten verdienten, und das, obwohl sie den reichen Bruder in Dresden hatten. Caspar wusste, dass Hermine nicht hätte sterben müssen, hätte man ihn damals das Meisteramt antreten lassen. Er wusste, dass seine kleinen Geschwister nicht hätten sterben müssen, wenn seine Mutter wenigstens einmal hätte Fleisch kochen können, als es ihnen besonders schlecht gegangen war. Und er wusste, dass Tiburtius Wanger noch viel zu jung war, um eine zehnköpfige Familie zu ernähren. Und schließlich wusste er, dass Magdalene Wanger sich schämte, zu einer Heirat mit ihm, der fünfzehn Jahre jünger war als sie, gezwungen zu werden.
Und Luisa? Sie log!
Sie war eine von jenen, die sich überhaupt nicht interessiert hatten für die Krankheiten in den Weberhäusern oder für die vor Dreck stehenden Kleider, die im Winter wochenlang nicht gewaschen wurden, weil es keine Wechselkleider gab, die man sich hätte überwerfen können. Nein, Luisa Treuentzien mit ihren eigenartigen Hüten hatte keine Ahnung, dass Sophie im Winter immer noch ins Bett machte, weil sie sich ständig verkühlte. Sie wusste nicht, dass Balthasar viel zu schmächtig für seine fünfzehn war. Sie hatte keine Ahnung von irgendwas.
„Und deshalb werden wir auch unsere Forderungen vor dem Mätzig, vor Liebig & Co. und vor allen anderen vorbringen.“
„Die sind doch gar nicht da“, entgegnete Caspar dem Türpe. Jetzt war Caspar wach, richtig wach: mit Leib und Seele. Seine Wurzeln hatten sich geregt, hatten einen Tropfen jenes Saftes geschlürft, den er in den vergangenen sechs Monaten verschmäht hatte. „Liebig und Haller sind in Leipzig, um sich mit den anderen Großindustriellen für ihre makabren Preise pro Elle zu beglückwünschen und ihre Kontoristen darin zu schulen, wie sie uns ausnehmen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.“
Treuentzien nickte ergeben.
Türpe nickte, weil Treuentzien nickte.
Und Caspar war Urheber von neuerlichem Geifern und Gebrüll. Ein Stolz war in ihm erstarkt, den er lange, lange nicht empfunden hatte, aber Kraft zum Herumbrüllen und Schwadronieren hatte er nicht. „Sie wollen uns klein halten, aber jetzt ist Schluss!“
Die Männer regten sich auf, riefen durcheinander, stachelten einander an. Caspar beobachtete den Treuentzien. Er hatte ihn nie zuvor so viel Bier trinken und so viele Pfeifen rauchen sehen wie in dieser Nacht.
„Es wird Finanzhilfe geben, wenn erst mal Liebig & Co., Mätzig & Söhne und all die anderen von den Versammlungen zurückgekommen sind.“ Treuentzien wusste, dass die Sache viel ernster war, als er zugeben wollte.
„Versammlungen, Herr Treuentzien. Machen Sie uns nichts vor: Die Verleger versammeln sich nicht im Interesse ihrer Weber, sondern verstecken sich aus Angst vor denen.“
Auf Türpes Kommentar blieb Ludwig Treuentzien stumm. Türpe hatte recht.
„Wird es genug Aufträge nach der Herbstpause geben, Herr Treuentzien?“ Türpes Wort sorgte für Ruhe im dunstigen Zunftsaal und alle Augen waren auf den mutigen Expediteur gerichtet, der sich der Meute stellte, wo seine Vorgesetzten das Weite gesucht hatten. Alle waren auf die Antwort gespannt. „Werden Alfons Kerner und Caspar Weber Aufträge haben?“
Caspar war erstens erstaunt über Türpes Schulterschluss und zweitens honorierte er es dem Expediteur, dass der keine Ausflüchte suchte.
Der schüttelte den Kopf. Dann schaute er die beiden namentlich genannten Weber schuldbewusst an. „Deswegen ist es ja so wichtig, dass wir an einem Strang ziehen, Leute. Es nützt uns nichts, uns die Axt in die eigenen Knochen zu hauen! Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden.“ Der Expediteur hatte die Aufmerksamkeit eines jeden gepachtet. Vergessen schienen die Querelen mit Mätzig, verraucht schien der Frust um Friedrich Webers fremdes Schmucktuch. Für Ludwig Treuentzien zählten in diesem Moment einzig das Handwerk und die Arbeiter, die kinderreich und ohne Aufträge an dem Affenschwanz
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