Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
mit lauter Unfreien, einem Land ohne freie Verfassung, wird dem Proletariat durch das Bürgertum die Aussicht auf mehr Rechte verbaut. So ist das eben. Die Weber gehören in Frankreich genauso wenig dem Mittelstand an wie hier. Das ist wie mit der Hühnerleiter: Der niedere Stand will sich dem Mittelstand angleichen.“ Ein jeder starrte den Expediteur an, der den Dorftölpeln die Welt zu erklären versuchte. „Wenn sich die Henne auf das Niveau des Gockels erheben will, gibt’s Krieg.“
Wer war der Gockel?, fragte sich Caspar. Caspar hatte schon ein paar Bier intus und lümmelte sich müde auf dem Tisch, den Ellbogen weit von sich auf die Platte gestemmt. Sein Kopf lag in der flachen Hand. Sein Vater war zur Septemberversammlung gar nicht erst mitgegangen. „Es hat doch keinen Zweck, dieses Gemecker!“, murmelte er. Zuerst hörte ihm nur Herrmann zu, der neben ihm saß, dann Ludwig Treuentzien und schließlich alle anderen, weil Ludwig Treuentzien die Idioten zur Ruhe rief. „Euch ist doch gar nicht klar, was ihr wollt. Was wollt ihr denn?“
„Wir wollen Pressefreiheit, weniger Zölle und weniger Steuern!“, käute der leicht beschränkte Altgeselle Meyer die Parole wider.
„Was willst du Pressefreiheit, Karl! Du kannst doch kaum lesen!“, murmelte Caspar. Das leise Grinsen, welches Ludwig Treuentzien hinter seiner frisch gestopften Meerschaumpfeife versteckte, behagte Caspar auch nicht mehr als die übrige Situation. Ludwig Treuentzien war keiner von ihnen, sondern einer der anderen und Caspar begriff einfach nicht, was der Expediteur hier verloren hatte. Das war ein merkwürdiger Abend: ein Schlagabtausch, bei dem jedes Schaf mal richtig herzhaft blöken durfte.
Heinz Türpe prostete Ludwig Treuentzien zu. Der nahm die Geste höflich an. Caspar – niemand sonst, nur Caspar – sah, wie sich Ludwig Treuentziens Augenbrauen kurz hoben, dann senkten. Es waren Luisas Augen, die ihn nun einen Herzschlag lang musterten. Caspar hatte schon so oft in Ludwig Treuentziens Augen geschaut, aber heute Nacht erst fiel ihm auf, dass es dieselben waren, die Luisa in ihrem herzförmigen Gesicht hatte. Das war zu viel für ihn. Er nahm einen kräftigen Schluck Bier. Bitter und kalt rann es seine Kehle hinab. Als er wieder aufschaute, starrte ihn Ludwig Treuentzien immer noch an. Caspar war mit einem Male hellwach, forschte im Gesicht des anderen. Was wusste der Treuentzien?
Nicht viel, das stand fest.
Wieso sprach er Caspar nicht auf das Schmucktuch an? Nichts an Treuentzien deutete darauf hin, dass er etwas von dem Tuch wusste. Vielleicht hatte er es nie zu Gesicht bekommen?
Mit einem Keulenschlag wurde ihm klar, dass Ludwig Treuentzien das Tuch überhaupt nicht geschenkt bekommen hatte. Er hatte es nie gesehen! – Sonst wären er oder einer von Liebig & Co. sofort bei seinem Vater aufgekreuzt und beim Türpe. Nein, der alte Treuentzien hatte keine Ahnung!
Noch eine Lüge. Caspar fuhr sich über die Augen. Nicht zu fassen! Nicht nur, dass ein gewisser Fernheim nicht der Auftraggeber war, sondern dass der Empfänger auch ein anderer als der Treuentzien sein musste. Ein falscher Auftraggeber, ein falscher Kunde.
Luisa Treuentzien hatte es faustdick hinter den Ohren. Wenn Caspar gewollt hätte, hätte er Ludwig Treuentzien jetzt sofort auf das Tuch ansprechen können. „Kein Wort zu irgendwem“, hatte Luisa gesagt.
Caspar überlegte. Er hatte nichts davon, wenn er jetzt beim Alten die Tochter verriet. Vielleicht kooperierte sie mit den Preußen, was man ständig Caspar und seiner Familie anzuhängen versuchte. Er war schon sehr beeindruckt von dem Fräulein, das musste er zugeben. Nicht schlecht, Luisa! Aber dass ihre Lügen so weit gingen, ihn Tag und Nacht schuften zu lassen, kränkte ihn doch. Sie hielt ihn wohl für dämlich. Aber wozu hatte er das Tuch gemacht? Und vor allem für wen? War es das pure Mitleid einer verwöhnten, gelangweilten Reichentochter gewesen, die nicht mit ansehen wollte, wie ein Damastwebermeister vor die Hunde ging? Diesem gallebitteren Gedanken gab er Bier zu trinken. Vielleicht war auch alles ganz anders, als er dachte, vielleicht hatte der Treuentzien doch das blöde Tuch gekriegt und sah gar keinen Grund, Caspars Vater darauf anzusprechen. Der Treuentzien hatte ja auch anderes zu tun, als sich über Geschenke auszulassen. Geschenke! So was! Caspar hatte noch nie in seinem Leben irgendetwas geschenkt bekommen.
Ludwig Treuentzien zog an seiner Pfeife und schaute jetzt zu Heinz
Weitere Kostenlose Bücher