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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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enger Wohnung das Wohnzimmer die Küche sozusagen umarmte. Mit ein bißchen Akrobatik hätte er sich vom Sofa aus, wo er geschlafen hatte, mit einer Hand auf den Türrahmen stützen, in die Küche greifen und die Messer an sich nehmen können. Das wirklich Eklige an der Armut war, daß man sie auch noch bewohnen mußte.
    Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, und auch der Ausgangspunkt der Müdigkeit erschien ihm rückblickend so nebulös wie durch beschlagenes Glas wahrgenommen: Nach Idas denkwürdiger Antwort hatte sich die sonnige Welt unscharf verzerrt. Es waren die schlimmsten Ahnungen in ihm aufgestiegen, was die künftigen Entwicklungen betraf, und zwar nicht deshalb, weil er sich darin als hilfloses Objekt gefangen sah, sondern ganz im Gegenteil: weil er instinktiv wußte, daß ihm die aktivste und aggressivste Rolle zuteil werden würde. Außerdem schien der Strafaufschub für die nächtliche Sauferei und den Schlafmangel endgültig abgelaufen gewesen zu sein. Denn sein Körper hatte plötzlich reagiert wie ein während einer Verfolgungsjagd in seine Einzelteile zer fallendes Auto in einem Chaplin- Film. Begleitet von Schweißausbrüchen und schrecklichen Schwindelgefühlen war er schließlich vor dem Haus des amtlichen Waldschrats zusammengebrochen.
    Ida hatte es geschafft, ihn in ein zufällig vorbeifahrendes Taxi zu verfrachten und in ihre Wohnung zu befördern. Nur bruchstückhaft konnte er sich noch daran erinnern, wie sie und der Taxifahrer ihn unter Stöhnen und Ächzen das Treppenhaus hochgeschleppt hatten und dann ...
    ... dann kam der Traum. »Aber es war so real«, hatte er bezüglich seines beklemmenden Erlebnisses gegenüber Ida beteuert. Und genau das hätte er auch sich selbst versichern können, als er aus dem Traum erwachte. Alles erschien darin so wahrhaftig und echt. Er war wieder zurückgekehrt an den Morgen der Hoffnungslosigkeit und sah sich als Opfer des bösen Sturzes. Kniend wie ein spontan Bekehrter, die Hände jedoch nicht zum Gebet gefaltet, sondern schlaff herabhängend, starrte er in seinem schäbigen alten Mantel das verfallene Haus des amtlichen Waldschrats an. Sein Kopf war wenige Zentimeter unter dem Kinn von dem Zaunstab durchbohrt, und aus der Wunde war so viel Blut herausgeflossen, daß die gesamte Vorderseite des Hemdes in der Dunkelheit wie schwarz lackiert aussah. Seine aufgerissenen Augen ähnelten glasierten Zwiebeln und schienen viel zu groß für die Höhlen, die sie beherbergten. Der Mund war weit geöffnet, geradeso, als käme Seichtem über seinen Tod aus dem Staunen nicht heraus, und in der Mundhöhle sah man ganz deutlich den von unten kommenden, die Zunge durchbohrenden und hirnwärts verlaufenden Zaunspeer. Die einsame Szenerie wurde eingehüllt von einem zarten Nebel, der in trägen Schleiern hin- und herwehte.
    Ali nahm dies alles aus der Sicht eines Beobachters wahr, so als wäre bereits das erste Fernsehteam vor Ort und schieße die sensationslüsternen Aufnahmen für das Nachmittagsprogramm. Und dennoch wurde er von maßloser Trauer übermannt. Eine Trauer jenseits der mittlerweile gewohnten Hoffnungslosigkeit oder der frostigen Depression, mit der er sich tagtäglich herumplagte. Sie war so urwüchsig, ja kindlich, dieselbe Art von Trauer, die er als kleiner Junge durchlitten hatte, als er erfuhr, daß sein Großvater gestorben war. Seine Eltern brachten es ihm schonend bei, meinten, Opa wäre jetzt im Himmel und würde von dort aus immer auf ihn herabschauen. Aber trotz seiner fünf Jahre hatte Ali es besser gewußt. Der geliebte Opa, der ihm bei jedem Besuch ein paar Plastikindianer mitbrachte und mit dem man trotz der pausenlos rauchenden Pfeife in seinem Mund so herrlich Fußball spielen konnte, war weder hinter irgend welchen Wolken entschwunden noch saß er da oben auf einem Schaukelstuhl und beobachtete den lieben langen Tag Alis Aktivitäten. Nein, er war schlicht und einfach gegangen, in ein schwarzes Nichts, wie es aussah, und würde nie mehr zurückkommen. Und das Grausigste war, daß es ihm eines Tages genauso ergehen, daß er ebenfalls auf Nimmerwiedersehen in diesem schwarzen Nichts verschwinden würde.
    Bei dieser Erkenntnis hatte sich auf Alis Kinderseele eine derart verzweifelte Traurigkeit gelegt, daß er drei Tage lang von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, dabei hohes Fieber bekam und am Ende sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Diese aus einem reinen Kinderherz erwachsende Traurigkeit empfand Ali nun auch in

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