Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
hätten wir unsere Sachen auch zu Fuß hierhertransportieren können. Das G anze war eine kleine Show für unsere künftigen Nachbarn, mein Schatz.«
»Seit wann bin ich denn wieder dein Schatz? Ich glaube, die Nostalgie hat dir das Hirn verdreht. Und im übrigen überzeugt mich deine Erklärung nicht im geringsten.«
»Und die Fensterbänke?«
»Das beweist gar nichts. Stell dir vor, mein Schatz , ich hatte in der letzten Zeit unseres trauten Beisammenseins selbst schon daran gedacht, die Zinkblechverkleidungen wieder entfernen zu lassen, weil ich den Moosbewuchs auf den Bänken natürlicher fand. Aber dann wurde ich abgelenkt - durch den Tod unseres Sohnes. Höchstwahrscheinlich ist der neue Eigentümer auch auf die Idee gekommen.«
Ja, das war ein Argument. Dennoch verzogen sich Alis Mundwinkel zu einem verstohlenen Schmunzeln, weil Idas rationale Erklärungen völlig überflüssig waren - sie hätte nämlich nur einen Passanten nach der Jahreszahl fragen oder noch besser, sie hätte einfach an der Tür klingeln und dann abwarten können, ob ihr tatsächlich ihr jüngeres Ebenbild öffnete. Und wenn sie wirklich nicht an seine Geschichte glaubte, warum hielt sie sich dann immer noch halb versteckt im Gassenausgang auf und wollte partout keinen Fuß auf den Gehsteig setzen? Ali kannte den Grund für die Zurückhaltung, hatte er sich doch am Morgen genauso verhalten: Auch wenn sie die Rationalität in Person mimte, so befürchtete sie insgeheim, aus einem der Fenster des Hauses gesehen zu werden.
»Wollen wir uns nicht etwas umschauen?« drängte Ali.
»Ich meine, wir könnten ganz ungezwungen nach Anhaltspunkten für meine, ähm, Theorie suchen. Wir könnten auch dort einfach klingeln und abwarten, was dann passiert.«
Selbstverständlich kannte er Ida gut genug, um zu wissen, daß sie darauf nicht eingehen würde. Doch das Kopfweh und der Hunger machten ihn unterschwellig aggressiv, und er war wie früher durchaus bereit, diese Wut an ihr abzureagieren. Unversehens erkannte er, daß die elenden alten Automatismen so langsam, aber sicher wiederauflebten. Auch die Ehe war irgendwie wie Fahrradfahren, man verlernte ihre Mechanismen nie, vor allen Dingen die kleinen Bosheiten nicht.
»Nein!« sagte sie wie erwartet. »Auf so einen Quatsch lasse ich mich nicht ein. Für mich ist die Sache ab … «
Abrupt wandte sie sich zu ihm um, und Ali befürchtete schon, eine Ohrfeige für seine Neckereien zu erhalten, denn sie sah ihn so verstört an, als hätte sie einen Exhibitionisten erblickt. Aber sie regte sich nicht. Vielleicht wollte sie ihn nur ohne Worte auffordern umzukehren. Also tat er ihr den Gefallen, machte kehrt und trottete zurück, bis sie sich gemeinsam erneut auf der Parallelstraße wiederfanden.
Die Sonne, die ihren wohl ersten Auftritt im Jahre 2001 hatte, schien nicht nur klar und hell, sie wärmte sogar richtig. Die allmählich erwachenden Geister des Frühlings spiegelten sich auch in Idas Gesicht, das mit einem Mal überhaupt nicht mehr verhärmt und über die Maßen gealtert wirkte, sondern geschmeidig und wunderschön, ja, sogar ein bißchen sexy. Um so erstaunlicher war es, daß dieses so jäh verjüngte Gesicht weiterhin die Verstörtheit von vorhin beibehielt, die Augen ihn entgeistert anstarrten und der Erdbeermund etwas höchst Seltsames herausbrachte:
»Ich habe den Hahn gesehen!«
Es klang so fassungslos, als hätte sie »Ich habe Jesus Christus bei Woolworth gesehen!« gesagt. Und tatsächlich begriff Ali, wenn auch zunächst eher unbewußt, was Ida so aufwühlte. Eine Ahnung vom Grauen der letzten Nacht kehrte in sein Bewußtsein zurück und er fragte sich, ob er den Hahn die ganze Zeit auch schon gesehen hatte.
»Du, du hast den Hahn gesehen?« stammelte er.
»Ja, ich habe am Eßzimmerfenster unseren, deinen Hahn gesehen!«
Den geflochtenen Hahn mit dem Riesenkamm, ihr Geschenk an ihn zum »verflixten 7. Jahr«. Lange her. Ida hatte ihn auf die antike Kommode gestellt, sobald die Umzugsleute diese ins Eßzimmer im Parterre gestemmt und vor dem linken Fenster aufgebaut hatten. Dort blieb er dann stehen, als eine Art Mahnmal an die alten entbehrungsreichen Tage, staubte regelmäßig ein, wechselte die Farbe von hellbeige zu schmutzigbraun, das Geflecht brach an einigen Stellen auf, bis er schließlich unsichtbar wurde, weil ein vertrauter Gegenstand, der immer an derselben Stelle steht, irgendwann unsichtbar wird. Aber man konnte ihn von der Straße aus sehen. Einen winzigen
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