Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tuer im Schott

Die Tuer im Schott

Titel: Die Tuer im Schott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickson Carr
Vom Netzwerk:
aufgefallen sind.
    Doch nun muß ich Ihnen mein Geheimnis verraten, das zugleich das Geheimnis des Falles ist, in dem Sie so heldenhaft ermittelt haben. Es ist ein so einfaches Geheimnis, daß es sich in vier Worte fassen läßt:
    Ich habe keine Beine.
    Ich habe keine Beine. Sie wurden mir beide im April 1912 amputiert, nachdem jener Dreckskerl sie mir bei einem kleinen Zwischenfall an Bord der   Titanic , den ich Ihnen gleich beschreiben werde, zerquetscht hatte. Die prachtvollen künstlichen Gliedmaßen, mit denen ich seither durch die Welt geschritten bin, haben diese Behinderung, fürchte ich, nicht ganz verbergen können. Es fiel mir auf, wie Sie meine Schritte beobachteten – nicht gerade ein Hinken, aber doch immer ungeschickt und manchmal, wenn ich zu schnell sein will, so linkisch, daß ich mich verrate. Im Grunde kann ich nicht schnell gehen; und auch darauf werde ich gleich zurückkommen.
    Ist Ihnen jemals aufgegangen, welch großartige Möglichkeiten Beinprothesen zur Verkleidung bieten? Wir kennen den Mummenschanz aus Perücke und Bart und Theaterschminke; wir kennen die falschen Nasen und die ausgestopften Bäuche; wir haben die raffiniertesten Sinnestäuschungen erlebt. Aber so erstaunlich das ist, hat man noch nie von der einfachsten Art der Täuschung gehört – jener durch den schieren Größenunterschied. Immer hat es geheißen: »Dies und das kann ein Mann tun, aber eines kann er nicht verändern: seine Größe.« Ich möchte also zu Protokoll geben, daß ich mir meine Größe aussuchen kann, wie es mir gefällt, und daß ich das schon seit einer ganzen Reihe von Jahren getan habe.
    Von Natur aus bin ich nicht groß. Oder um es exakter auszudrücken: Wenn ich die Möglichkeit hätte, die Größe abzuschätzen, die ich eigentlich haben sollte, wäre es, glaube ich, nicht allzu groß. Lassen Sie uns sagen, daß ich ohne den Eingriff meines Freundes auf der   Titanic   etwa einen Meter fünfundsechzig groß wäre.
    Durch die Entfernung meines Unterbaus (wie habe ich das ausgedrückt?) bleibt noch ein eigentlicher Körper von knapp neunzig Zentimetern. Wenn Sie mir nicht glauben, zeichnen Sie einmal Ihre eigene Größe an einer Wand an und messen Sie dann den Teil ab, den davon jene geheimnisvollen Gliedmaßen einnehmen, die wir Beine nennen.
    Ich ließ mir – zuerst im Zirkus – eine ganze Reihe von Beinprothesen verschiedener Länge machen, und nachdem ich manch schmerzvolle Stunde damit verbracht habe, das Gehen darin zu üben, kann ich mir heute meine Größe nach Belieben aussuchen. Es ist interessant zu sehen, wie leicht das Auge sich täuschen läßt. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr schmächtiger Freund stünde als Zweimetermann vor Ihnen: Ihr Hirn würde es nicht glauben, und mit ein wenig Geschick in anderen Bereichen der Verkleidung wäre er nicht mehr zu erkennen.
    Ich wechsle gern meine Größe. Ich bin einmal einsfünfundachtzig groß gewesen. In meiner berühmten Rolle als »Ahriman« der Weissager hingegen war ich fast ein Zwerg, und das mit solchem Erfolg, daß der brave Mr.   Harold Welkyn mich nicht wiedererkannt hat, als ich als Patrick Gore zu ihm zurückkehrte.
    Das Beste wird sein, ich beginne mit der Sache, die sich auf der   Titanic   zugetragen hat. Die Geschichte, die ich vor den versammelten offenen Mäulern in der Bibliothek vortrug, als ich kürzlich dorthin zurückkehrte, um mein Erbe einzufordern, war die Wahrheit – nur eine einzige Kleinigkeit habe ich leicht verändert und natürlich jenen einen Punkt ausgelassen.
    Wir haben die Identitäten getauscht, ganz wie ich es beschrieben habe. Der edle Knabe wollte mich tatsächlich umbringen, wie ich gesagt habe. Allerdings hat er versucht, mich zu erwürgen, denn damals war er der Stärkere. Diese kleine Tragikomödie spielten wir in den Kulissen einer echten Tragödie, und vor welchem Hintergrund, das haben Sie erraten. Der Hintergrund war eine jener großen, weiß lackierten Stahltüren, mit denen auf einem Schiff die Schotten dichtgemacht werden können und die dem eindringenden Wasser etliche Zentner schieres Metall entgegenstemmen. Die Art, wie ihre Scharniere sich bogen und zerplatzten, als das Schiff in die Tiefe ging, war, glaube ich, das Entsetzlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe; es war wie das Chaos, das über die Welt hereinbrach, wie der Fall der Tore von Gath.
    Der Plan meines Freundes war nicht gerade hoch entwickelt. Er wollte mir den Hals zudrücken, bis ich bewußtlos war, mich

Weitere Kostenlose Bücher